Journal Freitag, 2. Juni 2023 – Hähnchenjagd und ein Abend im Weinhaus Neuner

Samstag, 3. Juni 2023 um 8:48

Der Wecker klingelte mich aus einem Traum, der an Sturm-umtoster Küste und in verdächtig nach Fluch der Karibik aussehender Umgebung spielte, es ging um eine Doppelhochzeit.

Den Rollladen meines Schlafzimmers zog ich zu blauem Himmel und Morgensonne hoch – herrlich.

Durchkreuzte Kleidungsplanung: Für den Tag und das abendliche Ausgehen mit Herrn Kaltmamsell zog ich ein Kleid aus dem Schrank – das sich als ungebügelt erwies. Nach dem letzten Waschen vergangenes Jahr hatte ich es – eigentlich vernünftig – vor dem Weghängen nicht gebügelt, da es mit seiner Stoff-Fülle bis zum nächsten Tragen acht Monate später eh wieder verknittern würde. Und das umgehend vergessen. Beim nächsten solchen vernünftigen Ablauf befestige ich also einen großen Zettel “UNGEBÜGELT” am Kleidungsstück.

Was mich daran erinnerte, dass das zu Studienzeiten mein üblicher Prozess war: Wenig Platz im Kleiderschrank, ich musste (meine schon damals eher ausgesuchte und schöne Kleidung) ziemlich quetschen und verknittern. Deshalb hängte ich alles ungebügelt auf und bügelte es erst morgens vorm Anziehen frisch.

Gestern bekam ich auf dem Weg in die Arbeit unter klarem Himmel wieder Morgenfrische, es war herrlich.

In der Arbeit Geschäftigkeit, ein großer Teil davon mit Menschen. Keine Zeit für Mittagscappuccino, dabei lockte das Draußen arg. Zu Mittag gab es Apfel, Tomaten, Pumpernickel mit Butter.

Am Nachmittag geschahen viele Dinge gleichzeitig, für meinen gestrigen Konzentrationsmangel etwas zu viele Dinge, ich machte Fehler. (Oder ich fand mich vor einer Plattform auf dem Bildschirm wieder, und mir fiel nicht mehr ein, warum ich dorthin geklickt hatte. “Nochmal zurückgehen, dann fällt’s mir wieder ein” funktioniert hier ja nicht.)

Nach pünktlichem Feierabend ging ich über Lebensmitteleinkäufe heim – und wendete erstmals die Einkaufstechnik von Herrn Kaltmamsell an, so lange zu suchen, bis ich das Geplante bekam. Als Sonntagsbraten hatte ich mir meinen Liebling Zitronen-Thymian-Hähnchen ausbedungen und darauf beharrt, selbst die Zutaten dafür zu besorgen. Was zu einer Hähnchenjagd führte, denn der Vollcorner hatte keinen Gockel – in den Pfingsferien werde weniger Frischware vorgehalten. Sonst neige ich in solchen Fällen dazu, spontan umzuplanen, doch jetzt wollte ich auch mal hartnäckig sein. Ich ging zum Basitsch in der Müllerstraße: kein Hendl, weil Pfingsten. Weiter zum Herrmannsdorfer am Viktualienmarkt: Kein Gockel, wissen’S, Pfingstferien. Jetzt musste ich aber schon nachhaken: “Und da machen die Hendln alle Urlaub am Gardasee?” Nächster Versuch Basitsch am Viktualienmarkt: Bingo, hier bekam ich meinen Bauerngockel, es gab sogar noch drei weitere. (Sonst wäre ich noch zum Wild- und Geflügelhandel auf dem Viktualienmarkt gegangen, letzter Versuch wäre die Feinkostabteilung des Kaufhofs am Marienplatz gewesen.)

Das hatte so lange gedauert, dass ich daheim nur noch auspacken konnte, mein Augen-Make-up kurz auffrischen, dann spazierte ich mit Herrn Kaltmamsell zu unserer Reservierung im Weinhaus Neuner. Es hätte sogar Außentische in einem Schanigarten vor der Tür gegeben, aber die standen halt auf der Straße, gegenüber war Baustelle, an der gerade lärmend ein Laster Halt machte – und das historische Innere des alten Hauses finde ich ja besonders schön.

Ist Ihnen auch aufgefallen, dass Tischdecken immer weiter aus der Gastronomie verschwinden? Auch aus Fine Dining, dessen gestärkte weiße Tischdecken einst definitorisch waren?

Wir verbrachten einen sehr schönen Abend dort, wählten das Menü mit Weinbegleitung, wurden freundlich umsorgt – und kamen wie erhofft ins Reden, ins Erzählen über die vergangene Woche (nur weil man zusammen wohnt, bekommt man ja nicht unbedingt viel mit vom anderen).

Der Gruß aus der Küche war ein Stück Zwiebelkuchen, eines der typischen Gerichte des Hauses (ich hatte nachgefragt, weil es ja eigentlich noch nicht die passende Jahreszeit war). Im Glas statt einem Aperitif (der die Alkoholmenge des Abends wohl zu hoch gesetzt hätte) der erste Wein: eine fränkische Scheurebe vom Weingut Weltner, wunderbar frisch und rass.

Das Weizenmischbrot kam vom benachbarten Julius Brantner – und schmeckte beim Weitem nicht so brutal sauer wie der Laib, den ich vor Monaten dort gekauft hatte, war damals vielleicht einfach ein Ausrutscher.

Gebeizte Seeforelle, wunderbar aromatische frische Erbse, Hollerblüte, sauer eingelegte Radiserln und Rhabarber.

Zu den Kalbsmaultaschen in Liebstöckeljus (sehr gut und herzhaft) gab es einen badischen Grauburgunder Franz Keller – Schwarzer Adler, der mir ebenfalls sehr gut schmeckte.

Die Zitronen-Kapern-Butter zum Seeteufel mit Artischocken gossen wir selbst an, der weiße Burgunder Macon-Lugny Saint Pierre Bouchard Pére & Fils harmonierte hervorragend damit. (Ich merke immer wieder, wie hilflos ich beim Einschätzen/Vorhersehen des Geschmacks französischer Weine beim Lesen bin.)

Auch an der herrlichen Sauce béarnaise zur Rinderlende mit Spargel und roten Zwiebeln bedienten wir uns selbst, der Pinot Noir dazu schmeckte mir besonders gut (Hautes Côtes de Nuits “Louis Auguste”, Domaine David Duband, Burgund).

Als Dessert gab es einen Windbeutel mit Erdbeeren und Schokoladeneis, ok, im Glas eine pfälzische Blanc de Noir Beerenauslese von Frey & Söhne.

Wir waren aufs Angenehmste satt und nicht zu alkoholisiert, spazierten im allerletzten Rest des Tageslichts und in Abendkühle durchs Kreuzviertel nach Hause.

Fledermäuse! (Müssen Sie mir jetzt einfach glauben.)

Daheim gab’s noch (koffeinfreien) Espresso und Limoncello, überm Nussbaumpark schien der Fast-Vollmond.

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Service-Blog novemberregen packt mal wieder an. Wer die Erklärung der Europäischen Kommission mochte, wer “Was war nochmal Kreuzigung – Auferstehung?” schätzte, wird ganz besonders lieben:
“Das dunkle Herz des Kapitalismus”.

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Wolle Foto gucke? Ich empfehle mal wieder eine Zusammenstellung des instagram-Kanals Woman in Street: Doppelungen.

die Kaltmamsell

8 Kommentare zu „Journal Freitag, 2. Juni 2023 – Hähnchenjagd und ein Abend im Weinhaus Neuner“

  1. Beate meint:

    Hier habe ich das ganze Jahr noch keine Fledermäuse gesehen – ich habe schlimmste Befürchtungen.

  2. Anna meint:

    Das Verzichten auf Tischdecken hat neben ästhetischen Gründen oft auch wirtschaftlich-praktische Gründe in Zeiten von Teuerungen und Personalmangel. (In Pandemiehochzeiten fiel bei uns bspw. die Wäscherei wegen hohem Krankenstand z.T. fast komplett aus, dadurch bangen, ob am nächsten Tag die Wäsche rechtzeitig kommt, dass vor Servicebeginn noch eingedeckt werden kann)

    Vielen Dank für die Bilder! Nun weiß ich, dass ich vor sehr vielen Jahren im Weinhaus Neuner Lavendel Crème Brûlée gegessen habe, an die ich bis heute oft denke.

    Ein schönes Wochenende für Sie

  3. Poupou meint:

    Den Abschied von der Tischdecke beobachte ich auch zuhause: bei meinen Eltern ist die Tischdecke ganz selbstverständlich zu jeder Zeit auf jedem Tisch außer dem Küchentisch. Ich selbst lege nur selten für ein Essen mit Gästen eine auf, bin ich in anderen Wohnungen von Leuten meines Alters oder jünger, sehe ich dort auch eher keine – vielleicht ändert das auch die Erwartungen an das Erlebnis im Restaurant?

    LG
    Poupou

  4. Alexandra meint:

    Ich denke, dass Tischdecken generell einfach aus der Mode kommen, genau wie Gardinen übrigens. Es gibt beide überall – i.e. “in meinem Wahrnehmungsfeld” – zunehmend weniger.

    Hängt besonders bei ersteren vielleicht mit der aufwändigen Aufbereitung zusammen.

    Ich persönlich könnte das gut nachfühlen – habe ich doch seit geschätzt mindestens einem Vierteljahrhundert nichts mehr gebügelt – und auch nicht bügeln lassen, wohlgemerkt.

  5. Bleistifterin meint:

    Das beobachte ich auch. Es wird nämlich auch immer schwieriger, Tischdecken zu kaufen. Und dabei habe ich das Kriterium “schön” noch gar nicht erwähnt… Wir suchen schon länger, selbst alltagstaugliche überbreite Meterware ist nicht mehr so leicht im mittleren Preissegment zu bekommen

  6. Frau Irgendwas ist immer meint:

    Tischdecken? Überbewertet … ich habe als Kind immer, immer, immer gekleckert und wurde entsprechend gerügt, deshalb hier keine Tischdecken.
    Wenn es wo Tischdecken gibt, habe ich immer Angst wieder (als Einzige) zu kleckern und stelle mich entsprechend dämlich an …

  7. Croco meint:

    Tischdecken mag ich sehr. Sie geben einem Essen eine Feierlichkeit, es ist etwas besonderes.
    Wenn Besuch zum Abendessen kommt, lege ich immer noch eine auf, allerdings so eine französische mit Blumen und Ranken.
    Da muss sich keiner um Flecken scheren, ein Trauma bei vielen. Ich wasche die Decke trotzdem und bringe sie zum Mangeln.
    Tischdecken gehören zur Liturgie, wie Silberbesteck und schönes Porzellan. Das mag ich sehr in guten Restaurants.

  8. Alexandra meint:

    Ich empfehle Gebrauchtläden. Da finden sich erstaunliche Dinge, in vielen Kategorien.

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