Journal Donnerstag, 30. November 2023 – WoW – Word on Wirecard in den Kammerspielen oder: Muss Kunst wehtun?

Freitag, 1. Dezember 2023 um 6:18

Ich hatte über das Stück WoW – Word on Wirecard von Anka Herbut, das ich Mittwochabend in der Therese-Giehse-Halle der Kammerspiele sah, vorher nur gewusst, dass es irgendwie um den Zusammenbruch des betrügerischen Unternehmens Wirecard ging und multimedial gearbeitet würde (letzteres ist allerdings schon lang Inszenierungs-Standard). So brauchte ich eine Weile, bis ich erkannte, dass die Handlungen mit verschiedenen Wirklichkeitsebenen arbeitet, dass es um Wirklichkeitssimulationen und ihre Erkennbarkeit geht.

Das ist schon länger ein Topos in der Fiktion, der die Fragen nach freiem Willen und Erkenntnisphilosophie durchspielt, ob der Mensch überhaupt die Fertigkeiten hat herauszufinden, was wirklich wirklich ist, was ein Vorspiegeln, Manipulation, Simulation – und ob die Antwort überhaupt relevant ist. (Das Konzept Multiverse, unter anderem in aktuellen Superheldengeschichten Standard, hat diese Fragen aufgegeben und setzt verschiedene, gleichberechtigte parallele Wirklichkeiten voraus.)

Verschiedene Wirklichkeitsebenen sind beliebtes Szenario in der Literatur, angefangen mit God games, in denen sich irgendwann der Protagonist als Spielfigur einer höheren Macht herausstellt, bis hin zur Science Fiction, die das Thema von Anfang an gerne aus vielerlei Perspektiven und mit vielerlei Erzähltechniken durchgespielt hat. Im Film kennt man das Setting zum Beispiel aus Total Recall, Matrix, Inception.

Jetzt ist es also auch in der Gattung Drama angekommen. Die Wirklichkeitsebenen in WoW – Word on Wirecard sind unter anderem:
– Ein Forschungslabor der frühen 1970er, in dem Wirklichkeitssimulationen programmiert wurden.
– Die Verfilmung einer Geschichte mit verschiedenen Wirklichkeits- und Simulationsebenen inklusive der Dreharbeiten.
– Der Wirecard-Skandal als schief gegangene Wirklichkeitssimulation – was ich besonders genial und witzig fand, weil das die erfundenen Wirklichkeiten des Geschäftsmodells und seiner Finanzierung ebenso erklären würde wie das Verschwinden des Protagonisten.

Die Erzähl- und Inszenierungstechniken für die Vermittlung unterschiedlicher Wirklichkeitsebenen:
– Dieselben Schauspieler*innen/Rollen in verschiedenen Kostümen/Maske,
– Film – auf der Bühne waren ständig zwei Kameras in Aktion, ihre Bilder und anderes Filmmaterial übertragen auf drei riesige, zusammenhängende Bildschirme über der Bühne,
– Räume auf der und hinter der Bühne, in denen mal die eine, mal die andere Wirklichkeit gespielt wurde,
– in der Pause die Einladung ans Publikum, auf die Bühne zu kommen und ein Glas Sekt zu trinken, mit den Darsteller*innen zu sprechen – Vermischung zweier weiterer Wirklichkeitsebenen.

Pausenbühne.

Das fand ich ungemein kreativ und hervorragend gemacht.

Zwei weitere Techniken aber führten mich zu der gestern bereits angerissenen Überlegung, wie viel körperlicher Schmerz am Publikum erzählerisch gerechtfertigt ist. Auf der Website zum Stück ist angekündigt “Stroboskop-Effekte, laute Musik”, am Einlass standen Ohrstöpsel bereit, an den Türen weitere Warnschilder.

Vor der Pause konnte ich mir meist rechtzeitig die Ohren zuhalten, wenn die Lautstärke der Musik über Lärm-Level anstieg und schmerzhaft wurde. Lichteffekte gab es in gewohntem Theater-Maß.

Doch direkt nach der Pause wurde das Stück mit über 20 Minuten Dauerbeschuss durch Höllenlärm und Lichtblitze ins Publikum fortgesetzt, die ich irgendwann nur noch in Flugzeugabsturz-Schutzhaltung durchstehen konnte, Finger fest in die eingeschobenen Ohrstöpsel gepresst. Stehen Licht- und Lärmfolter nicht auf Verbotslisten? Ist das mit “Überwältigungskunst” gemeint? Soll ganz, ganz sichergestellt werden, dass das Publikum irgendwas fühlt? Denn ich bin sicher: Auch ein paar Umdrehungen weniger und ohne Schmerz hätten Lichtgeflacker und Musik ihre erzählerische Wirkung erzielt.

Muss ich als nächstes mit Stromstößen im Sitz rechnen? Selbstverständlich mit Ankündigung und Warnung, am Eingang werden Gummimatten bereitgestellt, die man zum Schutz auf die Sitze legen kann?

Zumal solche Inszenierungen auch alles andere als inklusiv sind und beträchtliche Bevölkerungsgruppen vom Theaterbesuch ausschließen. An die Schauspieler*innen möchte ich gar nicht denken, ich verstehe jetzt besser, warum deutsche Bühnendarsteller*innen international den Ruf haben, die ließen alles mit sich machen.

Der Applaus war Mittwochabend groß, ich hörte Begeisterung – beobachtete aber, dass nicht nur ich völlig entkräftet von der Licht- und Lärmfolter lediglich zu mechanischem Klatschen in der Lage war und nur noch heim wollte.

Empfohlene Besprechung und Rezensionssammlung von Martin Jost bei Nachtkritik:
“Ein irrealer Betrugsfall”.

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Nach dem späten Vorabend bekam ich weniger Schlaf als sonst auf einen Arbeitsmorgen, doch der war gut.

Emsiger und konzentrierter Vormittag im Büro, vorm Fenster Leiserieselter, der auf dem Boden allerdings eher Matsch war. Schneller Mittagscappuccion bei Nachbars, erster Einsatz der Kapuze der neuen Winterjacke, funktionierte hervorragend.

Mittagessen eingeweichtes Muesli mit Joghurt, einen Orange.

Auch der Nachmittag emsig und konzentriert, ich musste mich nicht mit meinen inneren Schatten befassen.

Beim Verlassen des Büros zu Feierabend versuchte sich die Jahreszeit anzuwanzen.

Heimweg durch Schneefall, war ganz ok. Daheim Yoga-Gymnastik, Brotzeitvorbereitung, zum Nachtmahl den Ernteanteil-Zuckerhut mit Orangensaft-Erdnussbutter-Dressing (gut!) angemacht. Dann gab’s noch reichlich Käse und Süßigkeiten.

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Ach, Shane MacGowan… Jetzt können die beiden wieder Duett singen.

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https://youtu.be/qSkN4EXhBR8?si=8olf8tm9ndKzgOwk

die Kaltmamsell

4 Kommentare zu „Journal Donnerstag, 30. November 2023 – WoW – Word on Wirecard in den Kammerspielen oder: Muss Kunst wehtun?“

  1. Maria meint:

    Ich erinnere mich an ein Theaterstück, in dem ein tiefer Brummton die halbe Inszenierung lang bedrohlich und laut aus den Lautsprechern kam. Ich wusste irgendwann nicht mehr, wie ich atmen soll und mein Kopf tat weh. An den Inhalt des Abends kann ich mich nicht erinnern, aber an dieses grauslige Gefühl und auch so ein Ausgeliefertsein (als unrettbar Kartoffeldeutsche geh ich ja nie früher aus einem Stück, für das ich bezahlt habe, was sollen denn die Leute denken und sowieso outet mich das als Banausin) schon. Darf Theater das? Weiß nicht. Warum mache ich so was mit? Frage ich mich eher.

    War es denn im Nachhinein nun eine gute Erfahrung? Wie schätzen Sie es mittlerweile ein?

    Neben der physischen Qual denke ich aber auch an Filme wie “Der freie Wille”, die ich in ihrer Schonungslosigkeit der Bilder auch als Qual empfunden habe. Trotzdem überwiegt in dem Fall etwas Dankbares, das war eine unheimlich intensive Erfahrung und auch horizonterweiternd. Irgendwie.

  2. Chris Kurbjuhn meint:

    Auf den ein oder anderen Schock-Effekt muss man als Zuschauer gefasst sein, aber das, was Sie schildern ist eine Unverschämtheit. Ich wäre gegangen.
    Außerdem ist es natürlich irgendwo auch ein künstlerischer Offenbarungseid: Wer zu solchen Mitteln greifen muss, um ein Publikum zu erreichenm, hat wohl keine anderen.

  3. Croco meint:

    All diese Belästigungen über Auge und Ohr führten bei mir zu einem fulminanten Migräneanfall.
    Die armen Schauspieler, sie müssen das jeden Abend erleiden.
    Dass Du das ausgehalten hast……..

  4. southpark meint:

    Da erinnere ich mich an einen anderen Blogartikel. Anscheinend ist Körperverletzung via Soundsystem gerade ein Ding unter Theatermachenden: http://hotelmama.it/2023/09/volksbuehnenlaerm/

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