Journal Montag, 15. Januar 2024 – Möglicherweise das prägendste Buch meiner Lesegeschichte: Friedrich Torberg, Die Tante Jolesch oder der Untergang des Abendlands in Anekdoten

Dienstag, 16. Januar 2024 um 6:18

Immer wieder hatte ich behauptet, dass ich Die Tante Jolesch oder der Untergang des Abendlands in Anekdoten von Friedrich Torberg alle paar Jahre lese, doch Nachschlagen bei mir selbst (-> Blog) ergibt, dass die letzte Lektüre mindestens 15 Jahre her sein muss.

Es war schon ein enormer Zufall, der mir dieses Buch seinerzeit in die Kinderhände gelegt hat. Meine Mutter hatte es sich in meiner Erinnerung auf einen Lesetipp in der Brigitte hin gekauft, das allein eine Ausnahme, denn meine Mutter kaufte sich sonst keine Bücher. Ziemlich sicher bin ich, dass sie es auf einen Urlaub bei meiner Tante in Italien mitnahm. Wenn Die Tante Jolesch 1975 erschien, war ich also neun oder zehn, als ich es zum ersten Mal las. Damals wusste ich bereits einiges über den Massenmord des Naziregimes an Juden (das Wort “Holocaust” wurde erst deutlich später benutzt), meine Mutter hatte mir schon früh kindgerecht davon erzählt (ob der Anlass eine Frage von mir war? meine Mutter berichtet, dass ich ständig zu allem möglichen fragte), und jetzt erlebte ich anhand der Buchlektüre eine jüdische Welt vor diesem Menschheitsverbrechen – ich war ungeheuer fasziniert und bin es im Grunde bis heute, fieberte mit jedem Detail mit. Friedrich Torberg war halt mein Karl May, man sucht sich’s nicht aus.

Die jüngste Lektüre erinnerte mich daran, wie viele Wörter ich hier lernte. Und wie viele der beschriebenen Welten später eine Entsprechung in meinem Leben bekamen. In der Tante Jolesch las ich zum Beispiel erstmals die Beschreibung einer Zeitungsredaktion; später war ich es, die Polizeiberichte verarbeitete, in meiner Zeit beim Lokalradio sogar eines sehr früh morgens persönlich abholte und bei dieser Gelegenheit die Einsatzzentrale gezeigt bekam. Später sowie über die Jahrzehnte meiner Berufstätigkeit kam ich zum Schluss, dass Tageszeitungsredaktionen und -verlage tatsächlich eine überdurchschnittliche Quote an Spinner*innen und Käuzen versammeln – und das sagt jemand, die in mehreren PR-Agenturen tätig war. Viel an meiner Lesegeschichte verlief entlang Autoren, die in diesem Buch auftauchten, meine Wien-Besuche ohnehin.

Diesmal schrieb ich beim Lesen mit. Und bemerkte, dass die für mich relevanten Zitate in zwei Kategorien fallen: Die einen, die ich regelmäßig anwende. Die anderen, die ich regelmäßig assoziiere, die aber auf einen wirklich passenden Einsatz noch warten (und ich rechne nicht unbedingt mit einer Gelegenheit).

Ich notiere hier die wichtigsten Zitate und ihre Bedeutung für mich persönlich. Den Kontext müssen Sie sich schon selbst holen, zur Hilfe (und für mich als eine Art ganz individuelle Konkordanz) habe ich die Seitenzahlen in der oben abgebildeten Ausgabe hinterlegt, nämlich in der einzig relevanten, Dießen 1975 (mit mindestens zwei Tippfehlern).

“Gott soll einen hüten vor allem, was noch ein Glück ist.”
Tante Jolesch (S. 17)
Zutiefst wahr und regelmäßig anwendbar. Wird oft unkorrekt zitiert.

“Alle Städte sind gleich, nur Venedig is e bissele anders.”
Tante Jolesch (S. 22)
Ja.

“Wie soll es mir gefallen am Balkan?”
Frau Zwicker (S. 23)
Vernichtendstes Urteil über einen Aufenthaltsort überhaupt.

“Was andere Mädchen Verhältnisse haben, geh ich in Vorträge.”
junge Dame, Blaustrumpf (S. 27)
Wandelte ich zu Studienzeiten für mich ab: Was andere Mädchen abends ausgehen, les ich Bücher.

“Was setzt du dich hin Kartenspielen mit Leuten, was sich hinsetzen Karten spielen mit dir?”
Die alte Kisch (S. 29)
Eine einleuchtende Variante von Groucho Marx’ “Ich mag keinem Club angehören, der mich als Mitglied aufnimmt.”

“Ich habe hier nicht gebadet – ich bin nach Hause geschwommen.”
Dschingo Deutscher (S. 48)
Assoziiere ich heftig bei Aare- und Rheinschwümmen mit Wickelfisch, am heftigsten aber bei Benjamin David, der in der Isar zur Arbeit schwamm. Warte noch auf eine Gelegenheit, selbst mal in Echt nach Hause zu schwimmen.

“Die Zahl der von mir angebrunzten Kaffeesieder ist Legion.”
Ernst Stern (S. 55)
Dabei habe ich mittlerweile novemberregen vor Augen.

Essen kann man das nicht. Ich bitte um Entschuldigung.”
Frau Löwenthal (S. 65)
Darauf spielt Herr Kaltmamsell regelmäßig an, es ist immer sehr lustig. (You had to be there.)

“Wo ist das Gestrüpp für den Buben?”
Vater Taussig (S. 67)
Bei jeder ganzen Artischocke, die hier auf den Tisch kommt.

“Tse. Des wird ja net zum Derscheißen sein, morgen…”
Fritz Imhoff (S. 71)
Nach jedem wirklich nennenswerten Gelage. Wie mir jetzt auffällt, ist das letzte solche schon lang her.

“Es sind noch ein paar da, die sagen, Zwetschgenröster ist kein Kompott!” Und schüttelt drohend die erhobene Faust: “Aber ich kenn sie alle!!”
Herr Neugröschl (S. 79)
Oft bei willkürlichen Grundsatzfragen assoziiert.

“Schimpferint, dum zahleant.”
Der alte Schwarz (S. 83)
Alltag im Geschäftsleben.

“Ich hab ihm onanieren gelernt.”
Herr Feldmann (S. 90)
In meinem vorvorigen Berufsleben berichtete mein Chef von einer sehr vergleichbaren Situation im Haus des Finanzvorstands. Und mein Kleinhirn überholte mit quietschenden Reifen das Großhirn, um mich genau diesen Satz laut zitieren zu lassen. Hastig schob ich die Gesamtanekdote hinterher, schenkte dem Chef auch am nächsten Tag das Buch, kann aber bis heute nur hoffen, das mein Ansehen keinen dauerhaften Schaden genommen hat.

“Gott ist gerecht.”
Fremdling (S. 118)
Oft verwendet.

“Freilein. Bis in einer kleinen Weile werde ich brechen!”
Tommi Plessnik (S. 119)
Regelmäßig, aber eher von Herr Kaltmamsell angeführt.

“Steh schön grad, mein Kind. Damit der Herr Professor sieht, wie schief du bist.”
Eine Mutter (S. 121)
In der Zeit mit kaputter Hüfte bei jedem neuen Orthopäden/Untersuchungsberechtigten vor mich hin gemurmelt.

“Grießen mußt du. So lange grießen, bis du sie im Bett hast.”
Der rote Krasa (S. 133)
1a Tipp bei Freund*innen, die von einem neuen Schwarm berichteten. Lang her.

“Ich nähre mich von reinem Selchgift.”
Dr. Schreier (S. 141)
Schlachtschüssel-Begleitsatz.

“… da kann es schon passieren, daß man einmal die Wahrheit schreibt.”
Dr. Rudolf Keller (S. 158)
Ist das nicht in jeder Redaktion eine Standard-Entschuldigung?

“Von was wird geräädet? Vom Väägeln”
Milada Kratochvil (S. 161)
Nie angewendet, oft im Kopf gehabt.

“Mit Genuß und Belehrung gelesen!”
Professor Lutz Steiner (S. 164)
Mein Lieblings-Feedback nach Gegenlesen.

“Solche Stücke sollten öfters geschrieben werden.”
Redaktionsdiener Reimer (S. 168)
Sicher mehr als einmal nach einem Theaterbesuch und auf die Frage “Und, wie war’s?” gesagt.

“In die entgegengesetzte.”
Alfred Polgar (S. 195)
Diese Zitat habe ich schon eingesetzt und zwar in genau derselben Situation und Absicht wie im Original. Hier bin ich unsicher, ob ich froh sein soll (weil eigentlich eine Ohrfeige) oder traurig (weil unverstanden), dass sie beide Male nicht fruchtete.

“Kellnerpunkt”
(S. 196)
Nach ein paar Versuchen nur noch im Kopf angeführt, weil die Erklärung so mühselig war.

“Jetzt hab i an Masochisten – der haut z’ruck.”
Böhmische Liesel (S. 201)
In Torberg-vertrautem Kreis und bei passender Situation ein Brüller. Wirklich.

“Räuber, Mörder, Kindsverderber
gehen nur zu Doktor Sperber”
Dr. Hugo Sperber (S. 207)
Oft nützlich in der Zeit, als im Freundeskreis Jura-Staatsexamen abgelegt wurden.

“Friedrich, mein Geschoß!”
Dr. Hugo Sperber (S. 210)
Jedesmal im Kopf, wenn ich auf diesen Vornamen stoße. Was heutzutage selten passiert.

“Caróbua”
“Chabanachta”
Dr. Hugo Sperber (S. 213)
Einsatz in meiner Poker-Phase. Am Tisch saß meist auch Gisi, die jedes Jolesch-Zitat zuordnen konnte, meist noch ergänzen.

“O Sie ostjüdische Mißgeburt! (…) Welches Ghetto hat Sie ausgespien?!”
Dr. Hugo Sperber (S. 215)
Selbe Szenerie, Ärger über verlorenes Spiel.

“Die Genesis, liebe Frau, ist nicht interessant.”
Dr. Hugo Sperber (S. 217)
Oft in meinem Kopf. Auch in Online-Meetings.

“Abortfrau mit erweitertem Kompetenzbereich”
Dr. Hugo Sperber (S. 217)
Mein Rollenvorbild beim Wiedereinstieg ins Berufsleben nach meiner Auszeit.

“Merken Sie nicht, dass Ihrer Anwesenheit lediglich dekorative Bedeutung zukommt?”
Dr. Hugo Sperber (S. 220)
Habe ich mich nie laut sagen getraut.

“Herr Staatsanwalt, wann soll mein Klient eigentlich einbrechen?”
Dr. Hugo Sperber (S. 220)
Gegenüber nahestehenden Menschen, denen man gerade gar nichts recht machen konnte.

“Ich habe oft mitten im Satz meine Weltanschauung ändern müssen…”
Franz Molnár (S. 234)
Das habe ich schon so oft zur Illustration meines Sprachniveaus im Spanischen angeführt, dass ich bis eben die Quelle vergessen hatte.

“My music isn’t lovely.”
Arnold Schönberg (S. 286)
Bei jeder Begegnung mit unangenehm atonaler Musik.

“Das Beste lassen stehn.”
Frau Paula (S. 308)
Sehr oft verwendet, zwischen Herrn Kaltmamsell und mir praktisch jedesmal, wenn auf dem Teller oder im Glas etwas übrig bleibt.

Außerdem verschaffte mir diese jüngste Lektüre der Tante Jolesch die Erkenntnis, dass ein paar von Torberg überlieferte und lieb gewonnene Zitate gar nicht darin vorkommen (sondern vermutlich in Die Erben der Tante Jolesch), zum Beispiel:
– Arkasse hatten wir schon bessere.
– Schreiben Sie doch mal einen Bestseller. (Alma Mahler-Werfel zu Friedrich Torberg)

§

An sich kann ich durchaus “hilft ja nix”, aber ich musste mir eingestehen, wie sehr mich winterliche Dunkelheit und eisige Kälte derzeit belasten und ein Gefühl des Gefangenseins erzeugen. Im Hellen und Warmen fühle ich mich gelassen und frei. (Große Hitze sperrt mich übrigens ebenso ein.)

Die Nacht war ok, der Weg in die Arbeit nicht zu kalt. Erwartbarer Büro-Montag mit Besprechungsvormittag. Mittags verlängerte ich meinen Marsch zum Cappuccino bei Nachbars ein wenig und warf eine Postkarte ein. Bei dieser Gelegenheit sah ich am Horizont sogar einen Streifen blauen Himmel, davor und danach übte dieser sich wieder in trübem Hochnebel-Grau.
Zu Mittag gab es Apfel und Vollkornbrot mit Butter.

Über den Nachmittag wurde mir immer trüber, Winter tut mir sowas von nicht gut. Mit hängenden Flügeln und in leichtem Schneefall ging ich nach Hause, besorgte unterwegs Obst als Brotzeit für die nächsten Tage.

Daheim erreichte mich die Antwort meines Bundestagsabgeordneten: Er teilt meine Sorge um die Demokratie, setzt sich aber lediglich für “eine kritische Prüfung der AfD durch das Bundesamt für Verfassungsschutz” ein. Das ist mehr als nichts, vor allem bei einem CSU-Parteimitglied.

Am Sonntag um 14 Uhr geht auch München gegen rechts auf die Straße (Route wird noch veröffentlicht).

Eine Folge Yoga-Gymnastik, die mir gut gefiel, die mache ich nochmal. Währenddessen war der Schneefall dichter geworden.

Nachtmahl aus edlen Resten: Bœuf Bourguignon aus der Gefriere mit frischen Nudeln, außerdem Asiasalat aus Ernteanteil mit zugekaufter roter Paprika. Nachtisch Schokolade.

die Kaltmamsell

4 Kommentare zu „Journal Montag, 15. Januar 2024 – Möglicherweise das prägendste Buch meiner Lesegeschichte: Friedrich Torberg, Die Tante Jolesch oder der Untergang des Abendlands in Anekdoten

  1. Martina meint:

    Liebe Frau Kaltmamsell,
    herzlichen Dank für die Tante-Jolesch-Zitate! Das war wirklich sehr erhellend für mich, denn jetzt weiß ich, wo einige der Sprüche meiner Eltern herkommen. Dann lese ich doch auch mal die Tante Jolesch.

  2. Daniela meint:

    Durch Sie habe ich vor einigen Jahren von Tante Jolesch erfahren und mir dann auch das Buch besorgt, es ist eine echte Bereicherung. Ich kannte vorher nur “Was ein Mann schöner ist wie ein Aff, ist ein Luxus”, ohne zu wissen, dass das auch zu den Weisheiten der Tante Jolesch gehört.
    Danke fürs Teilen der Zitate.

  3. Chris Kurbjuhn meint:

    Ich habe als junger Mensch sehr viel (“alles” ist bei diesem Vielschreiber nicht möglich) Torberg gelesen. Neben “Jolesch” hat mich “Die Mannschaft” nachhaltig beeindruckt, einer der besten literarischen Sportromane (es geht um Wasserball) überhaupt.

  4. die Kaltmamsell meint:

    “Die Mannschaft” mochte ich auch ganz gern, Chris Kurbjuhn, aber nach der Lektüre von “Schüler Gerber” und “Der letzte Ritt des Jockeys Matteo” kam ich zu dem Schluss, dass Torberg non fiction deutlich besser konnte und konzentrierte mich darauf (die Briefe!).

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