Der Kocherlball
Sonntag, 17. Juli 2005 um 12:07Als ich um 5:39 Uhr am Sendlinger Tor in die Straßenbahnlinie 17 steige, kommt mir tatsächlich ein Schwung schicker junger Männer auf dem Heimweg vom samstagnächtlichen Ausgehen entgegen, dem Geruch und unsteten Gang nach zu urteilen ziemlich betrunken. Herrlich, so habe ich mir das vorgestellt. Ich hatte mich bereits darüber gefreut, dass mit mir und dem Mitbewohner ein gutes Dutzend Leute auf die Straßenbahn warteten, die trachtenartige Gewänder trugen und deshalb ganz eindeutig dasselbe Ziel wie wir hatten: den Kocherlball am Chinesischen Turm im Englischen Garten.
Der Münchner Kocherlball geht auf das 19. Jahrhundert zurück: Damals, so heißt es, trafen sich die Dienstboten und Hausangestellten im Sommer jeden Sonntag am Chinesischen Turm zum Tanzen – vor ihrem Dienst, also um 6 Uhr. Sie tanzten und feierten, bis sie gegen 9, 10 Uhr wieder arbeiten mussten. Anfang des 20. Jahrhundert wurden diese Tanzveranstaltungen aus Gründen der Sittlichkeit verboten. 1989 wurden sie zurückgeholt, allerdings nur einmal jeden Sommer. Das Abgefahrene daran: Der Kocherlball beginnt auch in seiner aktuellen Version um 6 Uhr in der Früh.
Nachdem ich die vergangenen Jahre immer erst durch die Nachberichterstattung vom Termin erfahren hatte, lag ich diesmal seit Januar auf der Lauer, um den Kocherlball endlich mal nicht zu verpassen. Groß angekündigt wird das Datum nämlich nicht, man muss schon selbst die Augen offen halten.
Auf dem Weg zur Haltestelle Tivolistraße füllte sich die Straßenbahn nach und nach mit Kocherlballgängern, darunter ein schöner alter Mann in einer historischen Straßenbahnschaffneruniform. Am Maxmonument stiegen drei Herren zu, von denen der eine ein dezentes, aber sehr kurzes Dirndl trug, die anderen beiden unauffällige Wickelröcke. Ich war schon gespannt, welche Tanzpaar-Konstellation sich wohl daraus ergeben würde. Da wusste ich ja noch nicht, was ich jetzt weiß: Die wenigsten Leute gehen auf den Kocherlball um zu tanzen. Mit wenigen Ausnahmen besteht das Vergnügen der Ballbesucher darin, an Biertischen zu sitzen sowie hin und wieder an die Tanzfläche zu treten und den Tänzern zuzuschauen. Das verstehe ich zwar nicht, begrüße es aber, denn so kann man auf dem Kocherlball trotz mehrerer tausend Besucher gut tanzen.
Bayrische und alpenländische Volkstänze wurden gespielt, von ganz ausgezeichneten Musikanten. Die Landler, Polka, Walzer, Boarische sind eh nicht schwer zu tanzen, außerdem gab Tanzmeister Willi Poneder von der Bühne aus Anweisungen. Manchmal brauchte es für einen Tanz Aufstellung in Reihen und Kreisen – das überforderte dann doch die meisten Tänzer. Besonders schade fand ich das beim „Jägermarsch“: Die Herren gehen nach einigen Tanzschritten in Tanzrichtung vorwärts, die Damen klatschend rückwärts, dann tanzen die Leute miteinander, die zufällig voreinander zu stehen kommen. Genau solche Sachen machen Volkstanz so spaßig, denn ein paar Wörter redet man ja dann doch mit dem unbekannten Menschen, den man tanzend im Arm hat. Das System funktioniert allerdings nur, wenn der Tanzkreis geschlossen ist; war er heute nicht, so standen immer wieder Damen in der einen Gegend mit leeren Händen da, in der anderen Gegend Herren. Völlig hilflos bin ich weiterhin beim Zwiefachen: Der Mitbewohner und ich hören verbissen auf die Musik, um den Rhythmus herauszufinden, in dem Dreiviertel- und Zweihalbe-Takt wechseln – haben es aber noch nicht ein Mal geschafft. Da muss es einen Trick geben.
Das Publikum heute Morgen war herzerfrischend gemischt. Viele junge Leute hatten ganz offensichtlich durchgemacht und hielten sich mit glasigem Blick an ihren Masskrügen fest. Andere waren bei unserer Ankunft kurz vor sechs wohl schon einige Zeit da: Sie hatten ihre Biertische schön gedeckt und Kerzen aufgestellt. Einige trugen Kleidung im Stil des 19. Jahrhunderts, manche waren als Köche oder Dienstmädchen kostümiert. Bei Sonnenaufgang war die Gastronomie bereits voll in Betrieb, allerdings gab es statt Schweinsbraten und Riesenbrezen heute Kiachal (also Auszogne oder Kniekiechle – keine Ahnung, ob es für diese fettgebackenen Hefeteigscheiben ein hochdeutsches Wort gibt), Kaiserschmarrn, Wienerl, Weißwürscht. Getrunken wurde Kaffee oder Bier, und ich stellte fest, dass sich eine Radlermass morgens um halb acht bald wie das Normalste der Welt trinkt.
Mehr als die Hälfte der Frauen trugen Dirndl oder eine ähnliche Oktoberfest-Verkleidung, ganz wenige sogar halbwegs authentische Tracht. Mein halbherziger Versuch, am Vortag nach 20 trachtenfreien Jahren noch schnell ein Dirndl zu kaufen, war an den Ladenöffnungszeiten der entsprechenden Fachgeschäfte gescheitert (die Münchner Dirndlsupermärkte hingegen waren zwar geöffnet, richten sich aber eher an Touristen und wussten mit meinen Wünschen nichts anzufangen). So trug ich zum Lokalkolorit der Veranstaltung lediglich ein Detail bei, das unterhalb der Bühne fast nicht vorkam: bayrischen Dialekt. „Na suach da hoit a andre, stenga doch gnua rum!“, wies ich also den jungen Burschen an, der eigentlich den Boarischen mittanzen wollte, der gerade vom Tanzmeister angesagt wurde, aber dem verzweifelt suchenden Blick nach zu urteilen seine Partnerin verloren hatte. Woraufhin der Jüngling in T-Shirt und kurzen Treckinghosen tatsächlich eine der umstehenden Einzeldamen spätmütterlichen Alters in die Reihe holte.
Die bessere Gesellschaft hat auch auf dem Kocherlball ihr Reservoir: Vor dem „Restaurant am Chinesischen Turm“ kann man für viel Geld (ich hörte den Betrag 200 Euro) einen Tisch reservieren. Dann halten einem Dutzende scharfe Security-Menschen das feiernde Volk vom Hals (ich weiß das, weil mir einer der Wachmänner sogar den Durchgang durch diesen Außenbereich verwehrte, da ich kein weißes VIP-Babybändel ums Handgelenk trug). Aber zumindest darf man die VIPs über den Zaun besichtigen; das lohnt sich, weil dort die schönsten historischen Gewänder sitzen, auch wenn die herrschaftlichen Träger und Trägerinnen erst weit nach acht aufkreuzen.
Wir blieben nicht bis zum Schluss (ca. 11 Uhr), da es schon um 9 Uhr ganz schön heiß und plötzlich sehr voll wurde. Zumindest habe ich jetzt genug Informationen fürs nächste Jahr gesammelt. Bis dahin beschaffe ich mir ein anständiges Dirndl im Stil meiner Geburtsstadt (schwarzer Brokat mit hellblauer Seidenschürze), besuche ein paar Volkstanzkurse, suche mir einen Schwung Leute zum Mittanzen und reserviere einen einfachen Tisch im großen Biergarten.
Hier gibt’s mehr Bilder:
Kurz vor sechs ist es noch nicht ganz hell.
Volkstanz kann jeder.
Das Mitbringen eigener Getränke war offenbar verboten. Die standesgemäß schwarz gekleideten Security-Menschen beschlagnahmten Thermoskannen und Flaschen, versahen sie aber nach einem ausgeklügelten System mit Wapperln, damit jeder die seine wieder mit heim nehmen konnte.
Auch gelernt: Wenn es in der Nacht vor dem Kocherlball geregnet hat, keine hellen Schuhe und Hosen zum Tanzen tragen.
die Kaltmamsell8 Kommentare zu „Der Kocherlball“
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17. Juli 2005 um 17:08
Super! Und durchgemacht oder Wecker gestellt?
17. Juli 2005 um 17:15
Ich hatte mir den Wecker gestellt, aber schlichtweg nicht gehört.
Nächster Versucht 2006.
[ja, ich wär mit Licht am Radl hingefahren :-)]
18. Juli 2005 um 9:07
Schön, daß Sie auch so Spaß am Tanzen haben. Wenn es vorneweg ein bisschen Anleitung gibt, dann ist das auch gar nicht so schwierig.. (Das Problem mit dem Zwiefachen teile ich allerdings :-)
Bei uns hier war gerade am Samstag der Abschlußball von der Tochter in der Tanzschule, und da fragt die mich doch allen Ernstes, warum ich nicht mit Krawatte gekommen bin! Wir damals haben als allergrößtes Zugeständnis eben mal den Parka ausgezogen, mannmannmann …
Aber lustig war’s, mit der großen Dame zu tanzen, sie auf mörderhohen Schuhen, hihihi.
Jetzt ist sie mit der Oma eine Woche zum Tanzen in Frankreich, mit Schulbefreiung dafür.
18. Juli 2005 um 15:37
“Am Maxmonument stiegen drei Herren zu, von denen der eine ein dezentes, aber sehr kurzes Dirndl trug, die anderen beiden unauffällige Wickelröcke”
Hallo,
da muß ich wohl etwas richtigstellen:
Zwei der Herren hatten einfach Männerröcke vom Designer AndersLandinger an und meinereiner ein Trachtenoutfit, nur statt einer Lederhose ein kurzer Trachtenlederrock.
Hat mit Dirndl nix zu tun, Dirndl sollen den Mädels reserviert bleiben!
Und wir hatten sicher nicht vor, miteinander zu tanzen.
Aber toll war´s trotzdem, da muß man einfach dort gewesen sein.
Gruß
Karli
18. Juli 2005 um 17:25
Typisch München: Ein paar Jahre ist der Kocherlball ein Geheimtipp und eine gemütliche Angelegenheit, dann tauchen die ersten Schicki-Mickis auf, später versammelt sich geballte Bussi-Bussi-Gesellschaft, schließlich stoßen die ersten Touristen dazu und ganz zum Ende erscheint auch noch die Kaltmamsell. In zehn Jahren hat der Kocherlball die Ausmaße der Wiesn – es wird für uns einfaches Volk Zeit, sich zu verabschieden.
19. Juli 2005 um 10:59
Entschuldigung, Karli, haette ich das Outfit an einer Frau gesehen, haette ich es mit denselben Worten beschrieben – und Wickelrock bleibt Wickelrock, egal wer drinsteckt. Nein?
Metablocker: Typisch Muenchen? Das heisst, in Rosenheim waere eine Veranstaltung des staedtischen Kulturreferats geheim geblieben? Tut mir leid, dass ich Sie und Ihre Freunde belaestigt habe. Haben wir vielleicht sogar miteinander getanzt?
19. Juli 2005 um 16:18
Verehrte Kaltmamsell,
der Metablogger (nicht -blocker!!! den gibts nur im Beta-) war noch nie auf dem Kocherlball. Deshalb konnten Sie ihn auch gar nicht belästigen, leider. Aber wenn der Metablogger begründete Aussicht hätte, mit Ihnen auf dem Kocherlball tanzen zu können, würde er Dauergast in den nächsten zehn Jahren sein. In stiller Hoffnung zieht der Metablogger deshalb alle Einwände hiermit zurück. See you.
19. Juli 2005 um 21:06
Oh ja, 2002 war ich als offensichtlicher und unkostümierter Tourist etwas angetrunken dort (nach durchfeierter Nacht). Dieser wundervolle Morgen hat mich für zwei Jahre mit den Münchnern versöhnt. Vielleicht weisen Sie nächstes Jahr kurz vorher auf das denkwürdige Ereignis hin? Busterblocker, haha.