Konzentriertes Arbeiten?

Montag, 25. Juli 2005 um 16:19

Ich schreibe gern, wirklich. Wenn ich eine Idee für die Vorspeisenplatte habe, lasse ich alles liegen und stehen, um sie schriftlich in Worte zu fassen. Manchmal unterbreche ich mich kurz, wenn ich an einer Formulierung stecken bleibe, aber meist geht so ein Textlein in einem Rutsch durch. Je schöner die Grundidee, desto rutsch.

Wieso zum Teufel stelle ich mich dann bitte so an, wenn ich professionell schreibe? Auch das tue ich sehr gerne – an sich. Vor allem wenn ich ein solch wunderbares buntes und menschelndes Thema auf dem Tisch habe wie eben jetzt – eigentlich. Aber selten schaffe ich mehr als drei Sätze am Stück, dann muss ich mal wieder ins Internet schauen oder in einer Fachzeitschrift blättern oder ins Internet schauen oder Tee machen oder ins Internet schauen oder Tee einschenken oder ins Internet schauen oder mehr Wasser besorgen oder ins Internet schauen oder endlich die Post öffnen. Deswegen habe ich früher ja auch so entsetzlich viel geraucht, wenn ich an meinem Arbeitsplatz rauchen durfte: Weil ich statt all dem da oben jedesmal eine Zigarette anzündete. Ich überrasche mich immer wieder aufs Neue, welche Ausweichmanöver ich veranstalte, um nur nicht weiterschreiben zu müssen. Zum Beispiel indem ich einen Metatext verfasse.
Bei jedem beruflichen Text bringe ich es aufs Neue fertig, die Fertigstellung so lange zu schieben, bis ich unter höchsten Zeitdruck gerate und dann aus lauter Panik nicht weiterschreiben kann. Erst wenn ich überhaupt keinen Ausweg mehr habe, komme ich in die Pötte.

Zur Höchstform lief ich deshalb auch seinerzeit im Tageszeitungsgeschäft auf: Praktisch jeder Artikel musste noch am selben Tag fertig werden, und zwar presto wegen Redaktionsschluss. Dieses Zeitkorsett bestimmte auch die Tiefe der Recherche: Amtsleiter nicht sofort zu erreichen? Tja, kein ausgleichendes Statement des Amtsleiters. Es gab einfach von Vorneherein keinen Ausweg, denn die Geschichte war eingeplant, vielleicht auch noch als lokaler Aufmacher, und wenn keine Geschichte, dann keine Zeitung. Damals fühlte ich mich nicht mal besonders unter Druck; mancher Artikel wurde halt nicht so überragend, aber das konnte ich ja mit den nächsten gleich wieder ausbügeln.

Jetzt habe ich grade noch eine gute Stunde, um eine nette, runde Lesegeschichte zu schreiben. Mal sehen, ob die Panik schon groß genug ist.

die Kaltmamsell

17 Kommentare zu „Konzentriertes Arbeiten?“

  1. nic meint:

    *grins* muss irgendwie eine berufskrankheit sein. oder warum lande ich – statt an meinem artikel über alpensegler zu schreiben – plötzlich hier?
    klar, bin ich unter dem vorwand der recherche online gegangen. wie immer. aber ich würde nicht wirklich behaupten, hier viele alpensegler zu erwarten. muss mich versurft haben.
    … fühle mich igendwie ertappt. ich arbeite jetzt auch wirklich weiter! aber zuerst mache ich mir vielleicht noch einen tee. oder ich gehe zigaretten holen? hab ja schließlich noch zeit bis redaktionsschluss …

  2. Jörg meint:

    Klarer Fall von Procrastination

    Die Tendenz von Personen, Handlungen aufzuschieben, selbst wenn dieser Aufschub unter Umständen vorhersehbare stressreiche Konsequenzen hat.

    Ist im deutschsprachigen Raum seit ein paar Jahren Thema gesundheitswissenschaftlischer Studien.

    Dazu ein Psychometrischer Test:

    http://www.fu-berlin.de/gesund/skalen/Prokrastination/prokrastination.htm

    Und ein ZEIT-Artikel:

    http://www.zeit.de/2004/44/C-Aufschieben

  3. nic meint:

    nun, ich hab aber auch schon die theorie gelesen, dass gerade die zeit, in der man tee macht, spült, mit dem hund gassi geht, sich eine kippe dreht, zum briefkasten läuft, aus dem fenster schaut, grad noch geschwind das eine stück auf der klampfe übt … etc., die wahre kreative phase ist. weil da die gedanken frei kreisen (und kreißen.) also während ich hier rumsurfe, ist mein artikel quasi schon geschrieben. der rest ist routine :-)

  4. Jörg meint:

    Aus dem ZEIT-Artikel:

    Zur Procrastination gehören auch irrationale Beruhigungsgedanken ;-)

  5. nic meint:

    immer noch keine alpensegler.
    dafür weitere irrungen im internet und die erkenntnis, dass 1 liter teewasser genau eine stunde braucht, um bei voller flamme auf dem herd zu verdampfen. hab frisches wasser aufgesetzt. werde mich gleich um die alpensegler kümmern. aber erstmal den tee machen.

    jörg, als ich kürzlich einen artikel völlig grundlos schon eine woche vor redaktionsschluss fertig hatte, da war ich richtig beunruhigt ;-)

  6. Das Blog-Heinzelmännchen meint:

    Ich müsste gerade auch eigentlich arbeiten.

  7. Chronistin meint:

    Äh ja, ich auch…

  8. Harald H. meint:

    Und noch ein Link:

    http://de.wikipedia.org/wiki/Aufschieben

  9. typ.o meint:

    Ich habe den Verdacht, daß das mit Geld zusammenhängt. Arbeiten, die ich machen muß, weil ich dafür bezahlt werde, gehen mir ähnlich zäh vom Tisch wie in den Beiträgen oben. Non – Profit Kram, den ich machen kann, aber nicht muß, am besten nicht fest Zugesagtes, das geht wie von selber…

    Mein Schlüsselerlebnis war meine Diplomarbeit, in der ich Sachen gemacht habe, die ich zur Gaudi schon vorher für mit Begeisterung mich selber gemacht habe (Microcontroller programmieren). Das Ganze habe ich dann als Auftrag angenommen, und zack – war der Spaß weg. Das ist wahrscheinlich auch das Geheimnis der WINNER(tm), sich diesen Bogen zu sparen.

  10. die Kaltmamsell meint:

    Ah, “discomfort anxiety”, Angst vor der Beeinträchtigung des Wohlbefindens. Ich glaube, das mag ich haben.
    Habe die Geschichte übrigens tatsächlich fertig bekommen, und sie ist richtig gut geworden. Ein triumphales Gefühl!
    Und trotzdem weiß ich, dass das morgen nicht anders wird. Da steht noch eine Geschichte an, um die ich mich seit Tagen drücke.

  11. Buster meint:

    Das scheint mir (bei mir) mehr ein kreatives Grundmuster zu sein und hat weniger mit “aufschieben” zu tun: Ich muss mich im beruflichen Kontext auch immer unter enormen Zeitdruck setzen, um zu einem (für mich akzeptablen) Ergebnis zu kommen. Deshalb lach ich immer über die netten Seminare zur Selbstorganisation.

  12. goetzeclan meint:

    … und wie ich das alles hier so lese, muss ich auf einmal an die vielen Dinge denken, die heute noch geschehen müssen – aber vorher noch mal eben bei Jonnys Spreeblick vorbei , und in meinem Blog wollte ich doch noch … (abgetaucht)

  13. kid37 meint:

    Zum Thema “Procrastination” kann man auch Irvings “The Water-Method Man” lesen. Geht genau darum.

    Deadline-Arbeiten wird natürlich dann besonders spannend, wenn man den Tag vertrödelt hat, danni n den letzten 15 Minuten schwitzend und keuchend was anfängt – und dann der Chef kommt, um gaaaaaaaanz dringend noch etwas anderes “mal eben” erledigt haben zu wollen. Aber wir haben ja alle Nerven aus Drahtseilen.

  14. tknuewer meint:

    Ach, wie gut ich das kenne. Bis auf die Zigaretten…
    Aus meiner Erfahrung gibt es zwei Arten Journalisten: Die einen quetschen sich jeden Satz schmerzvoll aus dem Herzen, die anderen schreiben locker flockig und redigieren fünfmal drüber.

  15. alma meint:

    Das freie kreative Tun geht einem ohne Aufschub von der Hand. Sobald irgendeine auch nur klitzekleine Form von Zwang dahinter steht, kommt das Aufschieben. Warum dieses bei einigen Menschen so ausgeprägt ist, bedarf wohl einer tiefenpsychologischen Betrachtung.

    Ich leide auch an einer besonders schweren unheilbaren Form von Procrastination. Allerdings macht mich auch jede Art von Zwang, Bevormundung, Erwartungshaltung anderer, Einschränkung meines Raumes etc. wahnsinnig.

  16. kelef meint:

    das erinnerte mich gerade: eine ehemalige kollegin von mir wohnte während des studiums ein paar jahre lang in einem studentenheim. wer gerade kurz vor entscheidenen prüfungen stand konnte eindeutig identifiziert werden an manischem schuheputzen, exzessivem kochen, sintflutartigem blumengiessen, etc

  17. Padre meint:

    absolut köstlich! ich finde mich auf anhieb wieder – besonders in bezug auf zeitdruck und den sich daraus ergebenden kreativ-schüben. auch maßnahmen zur selbstdisziplinierung (z.b. eigenmächtig und gänzlich virtuell den redaktionsschluß vorzuverlagern) helfen nichts. ich habe daraus für mich abgeleitet, dass ich nun ganz gelassen, entspannt und nichtstuend dem abgabetermin entgegen sehe und mich darauf freue, in panischer zeitnot ein zeilenfeuerwerk loszulassen. wenn man seinen freiheitsunwillen mal akzeptiert hat, wird das leben einfacher! ;-)

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