Journal Donnerstag, 27. Juni 2024 – Bachmannpreislesen, Tag 1
Freitag, 28. Juni 2024 um 8:10Das eine oder andere wendete sich gestern dann doch zum Guten.
Mittelgute Nacht, die missliche Unterkunft, vor allem das fehlende WLAN beunruhigte mich ziemlich. Kurz nach sechs beschloss ich, dass genug war.
Milchkaffee mit mitgebrachter Cafetera – die Milch bodenbedeckend erhitzt im einzigen verfügbaren Topf. Beneiden Sie mich nicht zu früh um diesen Urlaubsluxus: An der Spüle gibt es kein warmes Wasser.
Wieder über Smartphone-Hotspot brachte ich meinen Laptop online und finalisierte Blogtext sowie Fotos. Ich war sehr gefasst darauf, dass es auch in der Dusche kein warmes Wasser geben würde – doch hier lief es problemlos! Man muss das Gesamtniveau einer Unterkunft nur genug absenken, dann löst sowas echte Begeisterung aus. Nach dem Duschen wurde mir auch der Sinn des bereitgestellten Abziehers in einer gemauerten Dusche mit Vorhang klar: Der Abfluss der Duschwanne liegt nicht am tiefsten Punkt, ich musste das Wasser hinschubsen, wenn es nicht stehen sollte.
Durch das frühe Aufstehen war ich sehr zeitig bereit für den Aufbruch und traf in Milde, aber unter bedecktem Himmel so früh am ORF-Theater ein, dass ich einen Sitzplatz im Studio bekam (es ist mir weiterhin das Liebste, live dabei zu sein; ich habe kein Bedürfnis, mich bereits während des Vorlesens und der Jury-Diskussion darüber auszutauschen).
Der Lesetag startete mit Sarah Elena Müller und ihrem Text “Wen ich hier seinetwegen vor mir selbst rette”. Ich hörte eine recht verrätselte Paar-/Drogen-Geschichte aus Ich-Perspektive mit sprechenden Gegenständen und inneren Stimmen, die zu Personen werden. Nicht so mein Geschmack, auch wenn ich das originelle Element Nähen mit Nähmaschine, Fäden, Stoffe schätzte.
Die Jury war sich überraschend einig in ihrem positivem Urteil (wie es eigentlich den ganzen Tag über keine tiefen Unterschiede in der Einordnungen der Texte gab): Mara Delius schätzte die Schwelle als Übergangsmarker, mochte viele der Bilder. Thomas Strässle nannte ihn einen “großartigen Text” und hob die doppelte Codierung von Stoff und Nadeln hervor. Auf Laura de Weck hatte die Handlung spannend wie ein Thriller gewirkt, Philipp Tingler sah im Vordergrund die Ambivalenz des Sorgens und Kümmerns, des sich selbst suspekten Inneren und war froh, dass der Text nicht mit einer Leseanweisung komme. Mithu Sanyal freute sich über das “produktive Rätsel”, dass viele Fragen offen bleiben, sich Ebenen überlagern. Brigitte Schwens-Harrant wies darauf hin, wie spät das “Ich” auftauche, dass der Text im Unklaren lasse, wer da locke, suche, wem eigentlich geholfen werden müsse.
Nur am Schluss bekannte der neue Vorsitzende der Jury, der vertraute Klaus Kastberger (nachdem er den vorherigen Punkten der Jury zugestimmt hatte): “Ich kann Texte nicht ausstehen, in denen Gegenstände sprechen.” Das gehöre für ihn in Kindergeschichten. Ah, geht also nicht nur mir so.
Zweiter Text des Bewerb-Tages: “Schwestern” von Ulrike Haidacher. Ein Standard beim Bachmannpreislesen: Die Begleitung eines sterbenden alten Menschen. In diesem Fall wird aus der Perspektive der Enkelin erzählt, die zusammen mit ihrer Mutter die letzten Stunden im Sterben der Großmutter erlebt; alle drei, so stellt sich heraus, sind gelernte Krankenpflegerinnen. Aus meiner Sicht sauber erzählt.
Sanyal gestand ihr anfänglichen Vorbehalte, weil der Text nach einer einfachen Erzählung ausgesehen habe, doch sie entdeckte einen neuen Blick auf Bekanntes: Es werde elegant viel mehr verhandelt (z.B. Grenzen). Kastberger wies darauf hin, dass letzte Momente in Klagenfurt oft thematisiert würden, hier aber in total neuer Weise. Er habe sehr viel gelernt (was ich halt 2018 aus dem ausführlichen und epochalen Artikel “Ganz am Ende” im SZ-Magazin über die Abläufe beim Sterben schon wusste). Strässle gestand dem Text Zartheit zu, sah darin Konflikte nur angerissen, nicht ausgetragen. Delius fand bemerkenswert, wie hier der Moments des Abschieds sprachlich verhandelt worden sei, Schwens-Harrant hielt es für mutig, wenn sich jemand überhaupt der ganz großen Themen wie Tod oder Liebe annehme. Tingler äußerte sich ein wenig enttäuscht, dass nach dem Vorstellungsfilm (Haidacher ist Kabarettistin und hatte von ihrer Begeisterung für Bühnenlautstärke gesprochen) ein so vorsichtiger Text gekommen sei. Und er werde seinen beiden Motiven Pflegeberufe und Generationenkonflikt nicht gerecht. De Weck bemängelte, dass alles auserzählt werde, die Sprache nur eine Ebene habe. Sanyal widersprach, aus ihrer Sicht war die Sprache nur scheinbar einfach: Es werde durchgespielt, wie eine einzelne Person mit der Situation umgehe.
Von Jurzcok kam als Nächstes “Das Katangakreuz”, eine konventionell erzählte Geschichte über ein Elternpaar aus der Sicht ihres Sohnes: Der Vater sammelt und bestimmt Münzen, doch sobald die Mutter eine Rolle spielt, wird klar, dass es um ihre typische unerzählte Geschichte geht.
Delius hob den scheinbar drögen Einstieg hervor, sah dann Heimatsuche, das Motiv Tausch, den Versuch des Sohns, seinen Vater zu fassen – doch dann die eigentliche Geschichte der Mutter. Sie fand “extrem interessant” mit welchen Mitteln der Text der Geschichte der Frau Raum gab. Raum nahm de Weck auf, ihr fehlte aber die Haltung des Kindes zu diesen Eltern. Sanyal sah die Perspektive des Kindes widergegeben, sah einen übermächtigen Vater, hinter dem ein zerbrechlicher Mann stehe, fand das elegant gemacht. Auch für Strässle steuerte der Text auf die Mutter zu; er erkannte typisch Schweizer Motive der Enge. Tingler kritisierte, dass viel zu viel expliziert werde, zu ausführlich geschildert, außerdem sei fragmentarische Erinnerung technisch ein wenig einfach. Schwens-Harrant wies auf Inkonsistenzen der Erzählweise hin: Mal sei es eine Kindersicht, dann wieder eine offensichtlich rückblickende. Kastberger fand den Text sprachlich sauber gearbeitet, aber auch, er habe zu wenig Raum gehabt, die vorgegebenen 25 Minuten nicht gut erfüllt; er wünschte sich mehr “erhellende Momente” wie die Autofahrt.
Mittagspause. Ich traf eine sehr spät angekommene Erst-Schlachtenbummlerin (die ich schon immer aus dem Internet kenne), die es am Vorabend wegen Bahnverspätung aus Berlin nur bis Salzburg geschafft hatte. Für meinen Mittagscappuccino ging ich unter überraschend blauem Himmel wenige hundert Meter Richtung Innenstadt; beim Zeittotschlagen am Vortag hatte ich die eine oder andere Stelle gesehen, die nach schnellen Cappuccino im Stehen aussah. Bekam einen, der ok schmeckte.
Für den Nachmittag setzte ich mich auf die andere Seite ins Publikum, die beiden anderen Frauen aus dem Internet, die ich kannte, neben mir.
Studio-Deko sind diesmal Portraits aller Bachmannpreis-Gewinner*innen. Zwei davon kenne ich, Kathrin Passig hätte ich ohne Beschriftung allerdings nicht erkannt.
Tijan Sila las seinen Text “Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde”, in dem es genau darum ging: Wie seine Mutter, mit der und seinem Vater er vor “dem Krieg” geflohen war, kippt in Verfolgungswahn. Eine bedrückende und gleichzeitig lakonische Erzählung.
Kastberger wies gleich auf die Parallelen zum Text vor der Pause hin. Er lobte, wie hier überzeugend auf den Moment des Titels hingearbeitet werde. Hier fand er das 25-Minuten-Format hervorragend genutzt. Sanyal war “extrem beeindruckt”, wie hier darüber geschrieben werde: “Der Krieg ist vorbei, aber er ist nicht vorbei.” Delius nahm sich wieder die Form vor, sah einen autofiktionalen Text mit einzigartiger Erzählökonomie, de Weck lobte ihn dafür, dass die psychische Erkrankung gerade nicht analysiert werde, sondern einfach geschildert. Schwens-Harrant mochte den täuschenden Charakter des Titels, denn tatsächlich gehe es um ganz andere Verrücktheiten und um den Wunsch, alles reparieren zu können. Strässler sprach von einem außerordentlich guten Text, mochte vor allem die darin auftauchenden Gleichnisse. Tingler wiederum lobte die realistsiche Ambivalenz, die den Protagonisten sogar kurz verführt, mit in den Wahnsinn der Eltern einzusteigen. Sanyal wies auf die eingearbeitete Migrationsgeschichte hin. (Kurzer Zank in der Jury, ob die verweigerte Anerkennung der Doktortitel beider Elternteile rassistisch sei oder nicht.)
Der erste Lesetag endete mit “Nylfrance” von Christine Koschmieder. Innerhalb weniger Sätze waren wir bei einer Frauenfigur in der westdeutschen Nachkriegszeit, die als Unternehmerin das personalisierte Wirtschaftswunder abgab. Mir gefielen Setting und Geschichte, die Zeitmarkierungen (Atrix-Werbung, Vertriebene, Gardinen, Quick) waren mir ein paar zu viel.
Strässler mochte die Generalmetapher des Titels und das historische Kolorit, kritisierte aber die Figur des Ehemanns Harry als adrettes Abziehbild; die Hauptfigur habe eine besseren Gegenspieler verdient. Sanyal begeisterte sich an der sinnlich nachvollziehbaren Zeitkapsel, sah Harry im Gegenteil als eben besondere Figur, die kein Krieger sein wolle. Sie unterstrich die Geschichte, die eben nicht die eigene sei. Kastberger fand sie handwerklich hervorragend gemacht und faktisch gut hinterlegt, erinnerte daran, dass die 50er und 60er heute ja gerne eine Patina der Fröhlichkeit bekämen. Tingler mochte vor allem den Anfang und wie er einen Bogen zum Ende spanne, fand sie aber manchmal zu konventionell. (Ich war fast erschrocken, dass ich Tingler gestern in fast allem zustimmte. Ist er kaputt oder bin ich es?) Schwens-Harrant lobte die Ambivalenz der Frauenfigur und dass sie nicht gewertet werde, unterstrich die “Verformungsbereitschaft” als Motiv für Charakter, Deutschland, Gesellschaft. Auch de Weck fand gut, dass die Frau hier nicht als Opfer der Männergesellschaft geschildert werde, sondern vielschichtig und mit durchaus dunklen Stellen. Delius verwendete für die Stimmung des Textes den Begriff “BRD noir”. Nicht erklären konnte sich die Jury, warum die Hauptfigur nun ihren Mann verließ.
Draußen regnete es inzwischen; ich stellte mich unter und frühstückte um drei meinen mitgebrachten Pumpernickel mit Frischkäse. In den letzten Tropfen spazierte ich zur Ferienwohnung. Schon vormittags hatte mich eine Nachricht der Vermieterin erreicht: Sie schickte mir Zugangsdaten zu einem anderen WLAN. Beim Eintreffen in meinem Zimmer konnte ich verifizieren: Das klappte, hurra.
Also verbloggte ich den Lesetag, hatte aber bis zur Abendessensverabredung (weil ja kein Bürgermeisterempfang auf Maria Loretto, buhuhu!) noch reichlich Zeit zum Zeitunglesen.
Mit meiner Verabredung ging ich dann ein Lokal suchen, das ihrer Lust auf Lamm entgegen kam. Den Tipp dafür bekamen wir vom Wirt einer Osteria: Als wir vor der Tafel seiner Tageskarte standen, wies er darauf hin, dass er noch viele weitere Gerichte biete. Ich fragte nach Lamm: Das hatte er nicht, beriet sich aber mit einer Kollegin – und schickte uns zum Restaurant Oscar inklusive detaillierter Wegbeschreibung, ganz bezaubernd. Wir gingen ein paar Minuten unter vielstimmigem Mauersegler-Schrillen, und mir fiel wie heuer immer wieder auf, wie viele vielspurige Straßen man in Klagenfurt ständig kreuzt: Die Stadt ist so deutlich auf Autoverkehr ausgerichtet wie kaum eine.
Am empfohlenen Restaurant Oscar setzten wir uns auf die Außenterrasse und aßen ganz ausgezeichnet.
Wir begannen beide mit dem Vogerlsalat, Speck, Kartoffeln, Kürbiskern, Landei: Hervorragend, das Ei in einer Brösel-Kräuter-Kruste gebacken. Davor hatte es schon frische Semmerl mit Butter und Salami gegeben. Dazu ließ ich mir einen Blaufränkisch aus dem Burgenland einschenken, hervorragend.
Gegenüber wurde mit Genuss das ersehnte Lamm gegessen, ich hatte mich für das Ochsen-Paillard auf gerührter weißer Polenta entschieden, ebenfalls ausgezeichnet – ein weiteres Achtel Blaufränkisch dazu. Die Begleitung bestellte noch Topfenknödel zum Dessert und Digestiv. Ich freute mich über diese Restaurant-Entdeckung für die Zukunft.
Spät, es war schon ganz dunkel, spazierten wir in wenig nächtlicher Frische in unsere respektiven Unterkünfte.
§
Sterben kann nicht so schlimm sein, sonst dadn’s net so viele machn.
Das ist nicht aus dem Text von Haidacher, sondern vom wunderbaren Fredl Fesl. Der jetzt gestorben ist. Er fehlt.
(Eine Bemerkung auf Mastodon erinnerte mich daran, dass die allererste Kassette in meiner Familie mit seiner ersten LP bespielt war und entsprechend oft gehört wurde. “Für Geld, da kann man Vieles kaufen, auch Leute, die dem Ball nachlaufen.”)
3 Kommentare zu „Journal Donnerstag, 27. Juni 2024 – Bachmannpreislesen, Tag 1“
Sie möchten gerne einen Kommentar hinterlassen, scheuen aber die Mühe einer Formulierung? Dann nutzen Sie doch den KOMMENTAROMAT! Ein Klick auf einen der Buttons unten trägt automatisch die gewählte Reaktion in das Kommentarfeld ein, Sternchen darüber und darunter kennzeichnen den Text als KOMMENTAROMAT-generiert. Sie müssen nur noch die Pflichtfelder "Name" und "E-Mail" ausfüllen und den Kommentar abschicken.
28. Juni 2024 um 12:19
In Klagenfurt kann ich als kleine grüne Oase den botanischen Garten nahe Kreuzbergl empfehlen. Weiß natürlich nicht, wie weit weg das ist für Sie oder ob sie überhaupt Zeit haben…
28. Juni 2024 um 15:57
Philipp Tingler ist öfter im Literaturclub des Schweizer Fernsehens als Kritiker zu sehen, auch Thomas Strässle. Laura de Weck ist eine der beiden Moderatorinnen. Die Sendung wird auch auf 3Sat gezeigt, je nach Zusammensetzung der Runde kann der Austausch sehr interessant sein.
28. Juni 2024 um 21:21
Ich danke dür die Zusammenfassungen der Diskussion.