Journal Mittwoch, 5. Juni 2024 – Elfriede Jelinek, Asche
Donnerstag, 6. Juni 2024Das Weckerklingeln war gestern sehr wenig willkommen, ich freute mich aufs Ausschlafen am Samstag. Und erinnerte mich an die nächtliche Krampfattacke: Nach Monaten ohne hatten linker Fuß und linke untere Wade gekrampft, ich hatte mich ein paar Mal in die Vorwärtsbeuge dehnen müssen, um das wegzukriegen (jede Dehnung an Fuß oder Bein hatte lediglich andere Muskeln in Krämpfe gejagt).
Der Tag wurde sonnig hell, ich musste mich aber aktiv daran erinnern, dass ich jetzt die längsten Tage im Jahr genießen sollte. Diese Hochwassersache schlägt mir wirklich aufs Gemüt, irgendwas in mir hat sich noch nicht von der existenziellen Erschütterung durch die Pandemie (ja, wir verdrängen das gesunderweise, aber es war wirklich, wirklich schlimm) erholt und lässt die Flügel hängen.
Für den Weg in die Arbeit ließ ich die Jacke daheim, um sie bei angekündigt warmem Feierabend nicht heimtragen zu müssen. Ich fror nicht mal.
Im Büro geordnete Emsigkeit, der Störfaktor Hochwasser war bereits eingeplant.
Überraschung: Ein richtiger Spam-Anruf auf mein Handy, von Düsseldorfer Festnetz-Nummer aus (bei den extrem seltenen Anrufen auf mein Handy gehe ich immer erstmal von einem Notfall aus – oder verwählt). Der Anrufer erzählte mit Schweizer Akzent irgendwas von einer Schweizer Firma, von der er anrufe, irgendwas mit THC. Erst unterbrach ich ihn und erklärte ihm, er müsse sich verwählt haben, ich sei eine Privatperson und hätte nichts mit diesen Dingen zu tun. Erst als er widersprach, begriff ich den Spam-Charakter des Anrufs, legte auf und sperrte die Nummer. Nun ja: Dafür, dass ich meine aktuelle Mobilnummer seit fast 15 Jahren nutze, ist das Spam-Aufkommen nun wirklich gering.
Mittagscappuccino bei Nachbars, die Außentemperatur perfekt für Wandern, nicht Baden – so gehört sich früher Juni.
Emsiges Wegschaffen, dann spätes Mittagessen: Banane, eingeweichtes Muesli mit Joghurt.
Früher Feierabend, weil ich abends den letzten Theater-Termin dieser Spielzeit hatte. Ich fühlte mich ein wenig als Kameradenschwein bei meinem vorzeitigen Abgang, weil eigentlich gerade Hochdruck herrscht – aber meine Aufgaben waren erfüllt, ich fühlte mich lediglich verpflichtet, für Notfälle parat zu stehen (das kriege ich in diesem Arbeitsleben nicht mehr weg).
Daheim nutzte ich die Zeit für offene Fenster in der Wohnung und Pediküre (gna), turnte eine Runde Pilates. Herr Kaltmamsell servierte frühes Abendessen: Spaghetti mit selbst gemachtem Pesto. Dieses schmeckte intensiv nach frischem Basilikum und ganz anders als jedes gekaufte Pesto – zu unserer Überraschung, denn das Resultet der vorhergehenden Versuche war gewesen: Gut, aber auch nicht besser als gutes aus dem Supermarkt.
Im Frühlingskleid spazierte ich ein letztes Mal in dieser Spielzeit zu dem Kammerspielen – um schnell festzustellen, dass ich zu früh dran war: Die 19:30 Uhr, die ich mir als Beginn notiert hatte, galten für die Einführung zum Stück, nicht für die Vorstellung. Das irritierte Verhalten anderer weniger Besucher:innen nahm ich als Beleg: Ich war nicht allein mit diesem Irrtum. Werde aber künftig genauer hinsehen.
Gespielt wurde Asche von Elfriede Jelinek (Uraufführung, inszeniert von Falk Richter). Dem Gespräch der Menschen in der Reihe hinter mir vor Beginn, die wohl die Einführung gehört hatten, entnahm ich, dass das Stück in ihren Augen “ohne Erklärung nicht zu verstehen” war, und die Kernaussage “alles kaputt”. Na ja, “verstehen” ist nicht das, worauf ich bei einem Theaterbesuch aus bin, weil halt Kunstwerk – mit dem ich etwas anfangen kann oder nicht.
In den folgenden knapp zwei Stunden wurde auch nichts zu verstehen angeboten, keine Geschichte. Sondern durchaus plakative Aussagen um die Themen Zerstörung der Erde (vor allem durch Plastikmüll, der bald bergeweise in Weiß, Orange und Blau auf der Bühne lag) sowie Trauer und Elend nach dem Verlust des liebsten Menschen. Der Text dazu bestand aus Fragmenten, meist impressionistischen, und Zitaten. Er griff immer wieder in die antike Kosmogonie zurück, manche Textteile tauchten im Wortlaut immer wieder auf oder wurden mehrfach gesprochen, gleichzeitig von mehreren oder einmal auch versetzt im Kanon wie ein Chorstück. Darin aber auch Schabernack wie “Der einzige Mensch, der für mich zählte, manchmal sogar bis drei.”
Die Schauspieler:innen agierten in oft wechselnden Kostümen und Masken mal explosiv aktionistisch, mal nur Text ins Publikum sprechend, dieses aber immer bis zur Karikatur expressiv spielend – sie stellten ganz klar keine Individuen dar, sondern waren Platzhalter für menschliches Verhalten (Schauspieler:innen dabei großartig). Ausnahme: Ulrike Willenbacher als nachvollziehbare und ganz eigene Autorinnenfigur, die trocken und realistisch spielte und sprach in ihrer Einsamkeit und Verlorenheit.
Eine zentrale Rolle spielten in der Inszenierung Videoprojektionen auf einen Bildschirm und den Bühnenhintergrund: Computer-generierte Bilder der Realität (derzeit KI genannt) mit ihrer ganzen Fehlerhaftigkeit in der Darstellung. Ich habe einige Bekannte, die genau damit spielen und das Neue und Kreative sehen, davon fasziniert sind – das eigentliche Vergnügen daran haben herauszufinden, was an den Resultaten ihrer Prompts eben nicht stimmt, unerwartet ist: Hier war das Bühnenbild (Katrin Hoffmann) einer ganze Theaterinszenierung davon getrieben. Bei mir kam das als Hoffnungsschimmer an: So wie wir Menschheit immer wieder in unserer Kurzsicht Zerstörung und Irrsinn schaffen, entstehen ebenso unbeabsichtigt Neuanfang und Auswege.
„Welche Anzahl von Welten nehmen wir an? Wie viele habe allein ich schon verbraucht?“, heißt es immer wieder im Stück. Die Inszenierung bewies die schiere Unerschöpflichkeit vorstellbarer Welten.
Ein durchaus anstrengender Abend (das hatte aber auch mit den wirklich unbequemen Sitzen in den Kammerspielen zu tun – seit der Wohltat der Volkstheater-Sessel sind sie mir noch bewusster), beim Heimmarsch durch milde Abendluft verschob ich die Verarbeitung auf den nächsten Morgen.
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Ich merkte, dass ich eigentlich keine Lust hatte, im Blog auf dieses Interview hinzuweisen, weil: Ist ja eh wurscht, hört ja keiner drauf, Hauptsache Autos. Dann erinnerte ich mich an meinen Vorsatz (soweit ich zu Vorsätzen in der Lage bin): “Man muss es doch wenigstens versuchen.” Hier also das Interview von Lena Rauschecker:
“Zukunftsforscher: ‘Keine deutsche Stadt braucht eine Straße mit mehr als einer Spur pro Richtung'”.
Wie müssen deutsche Städte aussehen, um Hitze und Hochwasser trotzen zu können? Wie bewegen wir uns in einer nachhaltigen Stadt der Zukunft? Welche Städte können Vorbild sein und wie fangen wir beim Umbau am besten an? Ein Gespräch mit dem renommierten Stadtgeograf und Zukunftsforscher Stefan Carsten.
via @stadtneurotikr
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