Bücher

Journal Montag, 13. Januar 2025 – Deniz Ohde, Streulicht

Dienstag, 14. Januar 2025

Wieder Mal hielt ich mich an Feierabend-Vorhaben (da reicht bereits ein Lebensmittel-Einkauf) und Wochenendplänen (Freitagssteak! Rotwein!) fest, um bei der Aussicht auf die Arbeitswoche mit vielen Unwägbarkeiten und vielem bereits feststehenden Druck nicht zu verzweifeln.
ABER! Ich hatte von einem hinreißenden Badeanzug in Weiß-Lila-Grün geträumt, perfekt schwimmtauglich.

Morgenhimmel über Hochhäusern, darin der Mond

Fast-Vollmond riesig über der Theresienwiese (das untere Licht) (in Echt natürlich VIEL größer).

Übers Wochenende war wieder gearbeitet worden, ich musste mich am Schreibtisch nach Öffnen meines Postfachs erstmal orientieren. Besprechungen, Wegarbeiten.

Sehr erhöhter Blick auf eine Stadt, vorne moderne Bürohäuser und Bahngleise, darüber blauer Himmel und Sonnenschein

Ich nahm mir aber Zeit, durch klaren Sonnenschein und Kälte zu einem Mittagscappuccino (teurer geworden) ins Westend zu gehen.

Mittagessen: Orangen (ich brauche bald eine Pause), Roggenvollkornbrot.

Am Nachmittag heftig weitergearbeitet; es wurde bereits dunkel, als ich erstmals in Welt- und private Nachrichten sah.

Auf dem knackig kalten Heimweg kurzer Lebensmitteleinkauf beim Vollcorner.

Daheim erwarteten mich Crowdfarming-Avocados – aber zwei Kisten, zwei Liefertermine waren kurzerhand zusammengelegt worden. 5 Kilo Avocados überfordern mich wirklich: Ich kündigte die Adoption des Baums, werde künftig einzelne Kisten bei Bedarf bestellen. Denn Wegwerfenmüssen ist genau das Gegenteil meiner Unterstützung von Crowdfarming.

Gereizte Stimmung, diesmal half mir die Yoga-Gymnastik nicht raus. Brotzeit vorbereitet, fürs Abendessen Endiviensalat mit Orangen(…)saft-Tahini-Dressing. Außerdem gab es einen Rest Lasagne vom Vorabend. Nachtisch Schokolade.

Früh ins Bett zum Lesen: Ursula März, Tante Martl – “Roman” genannt, doch die Geschichte der tatsächlichen Patentante der Autorin, ich wüsste gerne, warum sie das Buch “Roman” genannt hat.

§

Deniz Ohde, Streulicht.

Eine junge Frau erzählt, wie sie zur Hochzeit ihrer einst besten Freundin nochmal in ihre deutsche Heimatgegend kommt, Industrierand einer großen Stadt, in die heruntergekommene Arbeiter-Wohnung, in der sie groß geworden ist, in der nur noch ihr Vater lebt. Sie erzählt, wie es war, dort groß zu werden, nahezu unsichtbar als schüchternes Mädchen, das schon äußerlich nicht zu den anderen passte, wohl das Erbe ihrer türkischen Mutter. Aber alles sehend, wahrnehmend, und von so vielem davon niedergedrückt, klein gemacht. Nicht mal ihre Eltern können etwas mit ihr anfangen.

In einem ganz eigenen, spröden Tonfall und oft fragmentarisch erzählt diese Frau, deren Namen wir nie erfahren, der zu ihrer Ausgegrenzheit gehörte. Ohne Lamento, eher stoisch klingt sie in ihrer trostlosen Chancenlosigkeit, aus der sie sich spät und auch nur zum Teil und vorübergehend wegboxt – denn ihr fällt ja doch nichts ein, was als Ziel eines Kämpfens taugt.

Folgerichtig ist das keine Aufsteigerinnen-, keine Befreiungsgeschichte, und es gibt auch kein Happy End. Die Geschichte endet halt dort, wo sie endet. Und könnte in viele Richtungen weitergehen. Das fand ich alles sehr gut und überzeugend gemacht.

Falls jemand nach dem Gesellschaftsklassen-Gegenteil von Christian Krachts Faserland sucht: Bitteschön.

(Aber jetzt brauchte ich wirklich mal wieder was Heiteres.)

§

Das Landgericht Köln hat entschieden, dass Dubai-Schokolade in Dubai hergestellt sein muss.

Ich sehe schwarz für mein Malaga-Eis. Und erst für Mars-Riegel!

Journal Sonntag, 12. Januar 2025 – Selfielauf an der Isar

Montag, 13. Januar 2025

Der Morgen wurde Tag zu einem fahlen Grau. Ich machte es mir dennoch gemütlich, bloggte, las, trank café con leche, Wasser, Tee.1

Ein Isarlauf war gesetzt, ich horchte in mich, nach welcher Strecke mir war: Ich wünschte mir weite Blicke, also nahm ich die U-Bahn nach Thalkirchen, um von der Großhesseloher Brücke und durch die kahlen Bäume vom Isarhochufer schauen zu können.

Dann hatte ich auch noch eine Foto-Idee (ein schneefreier, trüblichtiger Wintertag bot ja nicht viel): Die regelmäßig gesehenen und fotografierten Motive – aber als Selfie-Hintergrund. Dabei bemerkte ich mal wieder meine mangelnde Selfie-Routine, ich stellte mich ziemlich an.

Frau in Laufkleidung fotografiert sich in einem Spiegel an Gleisen in einem dunkelblau ausgekleideten U-Bahnhof

Spiegelsefie am Sendlinger Tor ging noch.

Selfie einer rotnasigen Frau mit Brille und Mütze, hinter ihr das Gitter einer Brückenbrüstung über einem winterlich kahlen Flusstal

Auf der Großhesseloher Brücke.

Selfie einer Frau mit Brille und weißer Haarsträhne unter Mütze, hinter ihr unter düsterem Himmel das Isartal

Pullach.

Selfie einer Frau mit Brille und weißer Haarsträhne unter Mütze, hinter ihr unter düsterem Himmel eine Winterwiese und ein Hydrant

Auf dem Rückweg kurz vor der Großhesseloher Brücke.

Selfie einer Frau mit Brille und weißer Haarsträhne unter Mütze, hinter ihr hölzernes Geländer, daran ein hölzerner St. Nepomuk

Mit Brückenheiligem Nepomuk an der Floßlände.

Links angeschnitten Selfie einer Frau mit Brille und weißer Haarsträhne unter Mütze, rechts eine Winterwiese, ein Zaun

Hier am Isarwerk beim Hinterbrühler See lagerten hinterm Zaun bis vor einigen Wochen schlichte Steine der Alten Münchner Hauptsynagoge zwischen, vor 85 Jahren auf Befehl von Hitler abgerissen, die bei Bauarbeiten unter der Großhesseloher Brücke gefunden worden warden. Jetzt waren sie abtransportiert worden.

Selfie einer Frau mit Brille und weißer Haarsträhne unter Mütze, hinter ihr unter düsterem Himmel ein kahler Baum und ein Kanal

Isarwerk.

Frau in Laufkleidung fotografiert sich in einem Spiegel an Gleisen in einem hellgelb-hellgrün ausgekleideten U-Bahnhof

U-Bahnhof Thalkirchen.

Besser als das Selfie-Aufnehmen ging das Joggen selbst: Ich lief ab dem zweiten Drittel so leicht wie schon lang nicht mehr, hätte nach meiner 1 Stunde und 45 Minuten locker weiterlaufen können. Fröhliche Heimfahrt.

Frühstück kurz nach zwei: Äpfel, Orangen, eine Scheibe Roggenvollkornbrot mit Butter und gekochtem Schinken.

Wie angekündigt kam nachmittags die Sonne raus. Ich freute mich über die zusätzliche Wärme im Wohnzimmer, denn unerklärlicherweise fror ich trotz Heizung und dicker Kleidung.

Warm wurde mir erst beim Kochen: Gestern durfte ich in Abwesenheit von Herrn Kaltmamsell fürs Sonntagessen sorgen (er würde abends heimkommen), und ich hatte Lust auf klassische Lasagne gehabt, erstellte sie aus der Lameng wie zu Studienzeiten (Hackfleischsauce, Bechamel, Parmesan). Erstmal Ragú mit viel Gemüseschnippeln, und bis ich das Stück bockharten alten Parmesan gerieben hatte, brauchte ich keinen dicken Wollpulli mehr.

Yoga-Gymnastik – das 30-Tage-Programm “Center” von Adriene gefällt mir auch nach der 11. Folge sehr gut. Vielfältiges Aufräumen, u.a. weil am Montag nach drei Wochen Pause wieder Herr Putzmann kommt.

Die Lasagne gelang weitgehend (für meinen Geschmack hätte sie saftiger sein können), schmeckte gut. Nachtisch Schokolade.

Im Bett Deniz Ohde, Streulicht ausgelesen: Gefiel mir gut, dazu schreibe ich noch.

§

Es ist viel davon die Rede, dass gerade die medizinische Pflege auf ausländische Fachkräfte angewiesen ist. Doch wie ihr Alltag in unserer rassistischen Gesellschaft2 aussieht, fragt kaum jemand. Ich schenke Ihnen einen Krautreporter-Artikel, der genau das tut:
“Rassismus und Identität
‘Manche wollen sich nicht mal die Windeln von mir wechseln lassen'”.

  1. Aus einer gemischten Packung Beutel aromatisierter Tees war mir Grüntee mit Minzaroma in die Finger geraten, und ich wundere mich, warum man die eine Art Tee – Grüntee – mit dem Geschmack eines anderen Tees – Pfefferminztee – aromatisiert, anstatt gleich den anderen Tee aufzubrühen. Oder die beiden Tees zu mischen, falls man Pfefferminztee mit Koffeein haben möchte. []
  2. Ja, auch Sie gehören dazu, und auch ich. []

Journal Samstag, 4. Januar 2025 – Wohnen, Lesen, Fleischessen

Sonntag, 5. Januar 2025

Gut geschlafen (trotz echter Cola am Abend zuvor!), ich ließ mich aber wieder eher früh vom Wecker wecken, um langsam zurück in den Rhythmus der Arbeitswoche zu kommen.

Vorteil des dann doch bedeckten Himmels beim Schneewandern am Vortag: Keine entzündete Augen. Ich hatte erst abends gemerkt, dass ich die eingesteckte Sonnenbrille gar nicht getragen hatte, der Schnee hatte also nicht geblendet.

Tagesplanung: Lebensmitteleinkäufe, Schwimmen, Frühstück, Lesen, Yoga-Gymnastik, Abendessen mit Freunden im Haxengrill. Doch schon bei Morgentoilette vor Einkäufen merkte ich, dass ich eigentlich keine Lust auf Schwimmen hatte. Die endgültige Entscheidung verschob ich auf nach Einkäufe und zog los zum Viktualienmarkt. Dort beim Metzger Eisenreich erfolgreiche Besorgungen für Heilig-Drei-König bei Schwiegers (wir kochen). Das Thermometer am Juwelier Fridrich in der Sendlinger Straße zeigte -4 Grad an.

Vor knallblauem Himmel und sonnenbeschienen von links: Backstein-Rückseite einer alten Kirche, alte Arkaden mit Bäckern und Metzgern, ein weißer alter Turm mit fünf Spitzen

Frostige Sonne über Metzgerzeile, Rückseite von St. Peter und Altem Rathaus.

Da ich ohnehin in die Lebensmittelabteilung des Kaufhauses am Marienplatz wollte, sah ich mich auch dort im Obergeschoß nach der verflixten schwarzen Cordhose um, für die noch vor drei Monaten zuvor so viel Werbung in alle Online-Kanäle geschossen worden war.

Und weil ich auch dort nichts dergleichen sah, recherchierte ich daheim halt online – aber meine Kombination von Kriterien ist wohl aus: Meine Größe, keine reine Kunstfaser, Breitcord, schwarz, weites Bein (von mir aus mit Bundfalten), Bund mit Knopf/Reißverschluss/Gürtelschlaufen (also kein Gummibund oder wie ich lernte: “Jump-In-Modell”). Dass ich die vor Kauf gerne anprobiert hätte, strich ich halt von der Wunschliste. Schließlich fand ich sogar eine wie aus der Werbung vor drei Monaten in meiner Größe, jetzt bin ich gespannt, ob sie passt.

Weiterhin stellte sich keine Schwimmlust ein. Statt ins Olympiabad zu fahren, machte ich also Herrn Kaltmamsell und mir einen weiteren Milchkaffee und las im Wohnzimmer, das von fahler, schräger Wintersonne beleuchtet wurde. Das bereitete mir Freude, das Umplanen war eine gute Entscheidung gewesen.

Frühstück um halb zwei: Äpfel, (geschmacksneutrale) gelbe Kiwi, Roggenvollkornbrot mit Butter und Zwetschgenmus.

Lesenachmittag, mal am Tisch vorm Rechner, mal mit Kindle auf dem Sofa. Unter anderem Orbital von Samantha Harvey ausgelesen. Hm. Es muss enorm Spaß gemacht haben, für diesen Roman um eine sechsköpfige Besatzung der ISS und ihren Alltag zu recherchieren und ihn zu schreiben. 24 minutiös beschriebene Stunden, in denen wir in personal erzählten Abschnitten die einzelnen Menschen auch ein wenig kennenlernen, in denen die Erzählinstanz lyrische Gedanken über DIE ERDE ausbreitet.

Zu lesen fand ich den Roman aber nicht so interessant, es passiert halt nichts – auch wenn ein Tornado, den die Astronaut*innen beobachten, sowas wie einen Spannungsbogen reinbringen soll.

Wegen des ausgefallenen Schwimmens fühlte ich mich nicht genug gereinigt: Nach einer Einheit Yoga-Gymnastik ließ ich mir ein rares Vollbad ein – und erinnerte mich an eine Vitamin-C-Gesichtsmaske, die ich mal im BodyShop geschenkt bekam. Für die Zeit im heißen Wasser der Wanne legte ich mir also ein nasses Papier mit Augen- und Mundlöchern aufs Gesicht (eine andere Gelegenheit als Vollbad kann ich mir für sowas nicht vorstellen).

Mit Herrn Kaltmamsell marschierte ich durch weiterhin frostige Luft zum Haxengrill hinterm Alten Rathaus, wo unsere Freunde schon auf uns warteten. Den Tisch zu bekommen, muss ein echter Kampf gewesen sein, das Lokal ist durchgebucht. So aber freuten wir uns auf das Wiedersehen seit viel zu lange und auf einen Fleisch-Abend.

Der Service hatte unser Herz, noch bevor wir uns setzten: Der begleitende Hund bekam ohne Bestellung als Allererstes einen Wassernapf serviert. Diese Aufmerksamkeit zog sich durch den ganzen Abend. (Ein wenig anstrengend war allerdings der sehr laute Raum, wir konnten uns nur mit erhobener Stimme unterhalten.)

In einer weiten weißen Schüssel viele ganze Kopfsalatblätter, dazwischen Radieschenscheiben und geröstete Scheiben Breze, neben der Schüssel ein Kännchen weißes Dressing

Herr Kaltmamsell und ich fingen mit dem Kopfsalat-Kopf für zwei an: Gut!

Auf einem hellen Holztisch von vorne nach hinten: ein Teller mit Scheiben dunklem Fleisch in dunkler Sauce, darin ein Semmelknödel, ein Schälchen Wirsinggemüse, ein halb volles Glas Bier, ein Teller mit einer halben Schweinshaxe

Da ich Schweinshaxe hin und wieder im Biergarten esse, bestellte ich eine Portion Kalbshaxe: Exzellentes Fleisch, großartige Sauce, guter Wirsing mit Biss, nur der Semmelknödel war für meinen Geschmack zu kompakt (die Schweinshaxe sieht man gegenüber, sie wurde als “die beste seit Jahren” gelobt mit Schwerpunkt auf wirklich röscher Kruste). Dazu trank ich ein wenig ins Augustiner-Sortiment hinein: Je eine Halbe Dunkles, Edelstoff, Alkoholfreies, für dieses Abend genau richtig.

Ich hatte sogar noch Kapazität für Nachtisch (als einzige am Tisch).

In einem weiten, tiefen Teller Vanillesauce, darin ein Streifen Apfelstrudel, darüber ein wenig Sahne und einige rote Johannisbeeren

Apfelstrudel, an dem mich vor allem die offensichtlich selbstbereitete Vanillesauce (also mit Ei, nicht aus dem Packerl) begeisterte. Ein schöner Abend.

§

Wahrscheinlich wirklich nur interessant für Menschen, die zum Jahreswechsel 1999/2000 (dem ersten, den ich in München erlebte) bereits Nachrichten verfolgten: Der Guardian analysiert die Panik vor dem Y2K-Chaos vor 25 Jahren.
“‘All people could do was hope the nerds would fix it’: the global panic over the millennium bug, 25 years on”.

After 25 years, it might be hard to recall just how big a deal the bug – now more commonly called Y2K – felt then. But for the last few years of the 90s, the idea that computers would fail catastrophically as the clock ticked over into the year 2000 was near the top of the political agenda in the UK and the US. Here was a hi-tech threat people feared might topple social order, underlining humanity’s new dependence on technological systems most of us did not understand. Though there are no precise figures, it’s estimated that the cost of the global effort to prevent Y2K exceeded £300bn (£633bn today, accounting for inflation).

(…)

Curiously enough, to this day experts disagree over why nothing happened: did the world’s IT professionals unite to successfully avert an impending disaster? Or was it all a pointless panic and a colossal waste of money? And given that we live today in a society more reliant on complex technology than ever before, could something like this happen again?

Unter anderem mag das Thema ein frühes Beispiel dafür sein, dass populistisch gedrehte Medienthemen das Vertrauen in Wissenschaft beschädigen, deren Fakten zur Heraufbeschwörung von Horroszenarien missbraucht werden. Denn auch wenn Expert*innen wussten, dass das Risiko gering war und Sicherheitsmaßnahmen ergriffen wurden, fragten Medienschaffenden sie halt typischerweise: “Was ist das Schlimmste, das passieren kann?” Und die Fachleute antworteten fachgerecht.1 Ihre Antwort auf die Frage: “Wie groß ist denn die Gefahr?” (“Klein.”) wäre zu wenig schlagzeilenträchtig gewesen.

The problem is, it’s impossible to prove why something didn’t happen.

(…)

Still, when asked whether we learned our lessons from Y2K, every person interviewed for this piece gave the same answer: no. While our IT systems may be more robust today (and even this is a point of contention), we have not learned how to communicate more judiciously about technology. “Every new thing is hailed as if it’s going to either save the world or destroy it,” Loeb says. “What gets lost is the complexity of what’s happening in between.”

§

Aufschlussreiches Interview mit Piotr Cywiński, dem Direktor der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau (€):
“80 Jahre Befreiung des KZs:
‘Auschwitz ist viel näher, als es scheint'”
.

Worum geht es in Ihrer Arbeit hauptsächlich? Um die Vermittlung des Holocaust oder eher um das Gedenken an die Opfer?

Um beides. Unsere Gedenkveranstaltungen erwecken weniger Aufmerksamkeit, je mehr Zeit vergeht. Dem wirken wir entgegen. Das Ziel ist es, bei unseren Besuchern das Bewusstsein zu wecken für das, was passiert ist. Denn nichts ist für immer gewonnen. Wenn ich an Tagungen teilnehme, geht es mir um das Gefühl der Verantwortung, um die moralische Besorgnis über die eigenen Entscheidungen. Wenn Sie diese moralische Angst bei Ihren eigenen Handlungen nicht spüren, dann hat die Erinnerung an Auschwitz nichts gebracht.

(…)

Die letzten Überlebenden von Auschwitz sind wichtige Zeugen, die bestätigen können, dass es Auschwitz tatsächlich gegeben hat. Wie bereiten Sie sich auf die nahe Zukunft vor, wenn es keine Zeugen mehr geben wird?

Die Überlebenden haben ihren Job gemacht. Sie haben Tausende Bücher publiziert und Zeugnis abgelegt. Sie haben mit jenen Menschen gesprochen, die über Auschwitz reden wollten, sie haben ihr ganzes Leben der Erinnerung gedient. Es ist Zeit, dass wir erwachsen werden und uns selbst um diese Geschichte kümmern. Auch wenn das nicht einfach wird. Es ist unsere Geschichte, unsere Verantwortung. Wir können nicht mehr nur den Überlebenden zuhören.

§

Malte Welding fasst einige seiner Beobachtungen als Vater zusammen:
“Vier Kinder”.

via @texasjim

  1. Gestand das nicht mal ein Wissenschaftsjournalist? Dass er in Interviews oder auf Pressekonferenzen, deren Themen er nicht wirklich begriff, einfach frage: “Was ist die schlimmstmögliche Folge?” – um Stoff für Berichterstattung zu bekommen? []

Bücher 2024

Montag, 30. Dezember 2024

Erst mal ein bisschen Statistik zu den gelesenen Büchern 2024:

Hinter den Titeln habe ich die Medienform/Herkunft vermerkt: P = Papier, E = E-Book, B = Bibliotheksausleihe.

Außerdem hier die Aufschlüsselung nach Gender.

Interessant: Nachdem 2023 sich als Jahr der Autofiktion erwiesen hatte (unbeabsichtigt), wurde 2024 das Jahr der literarischen Verarbeitung deutscher Geschichte: Zum einen eine neue Welle mit dem Dritten Reich als Hintergrund, zum anderen DDR und Wende.

Auch dieses Jahr bezeichnet * eine Lese-Empfehlung.

1 – Granta 165, Deutschland– P

2 – Eva Menasse, Dunkelblum* – B
Hier unten beschrieben.

3 – Friedrich Torberg, Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten* – P
Hier die ausführliche Erklärung, warum dieses Buch für mich so wichtig ist und warum ich es so häufig empfehle.

4 – Sina Pousset, Schwimmen – E

5 – Alasdair Gray, Poor Things* – P
Nach dem Wiederlesen hier ausführlich besprochen.

6 – Gabriele Conrath-Scholl (Hrsg.), August Sander, Meisterwerke – P

7 – Katharina Adler, Iglhaut – B

8 – Katharina Seiser, Österreich express* – P
Ein sehr schönes Kochbuch in verlässlicher Qualität mit handfesten Alltagsrezepten von Katha (die zu meiner Verwunderung von der Qualität- und Genussküche gerade zu Gesundheitsratgeber umschwenkt).

9 – Ewald Arenz, Der große Sommer – B

10 – Jeff Noon, Vurt* – P
Mehr dazu hier.

11 – Ursula Krechel, Landgericht* – B
Hier unten ausführlich besprochen – eine neue Perspektive in der Aufarbeitung des Dritten Reichs und der Jahre direkt danach. Das scheint mit ohnehin ein roter Faden dieses neuen Blicks zu sein: Dass die Nachkriegszeit als gesellschaftsgeschichtlicher Teil des Dritten Reichs behandelt wird.

12 – Naomi Alderman, The Future* – B
Hier unten besprochen.

13 – Wolf Haas, Eigentum* – B
Hier meine Begründung fürs Gefallen.

Und hier meine Spende eines Titelbilds für die nächste Auflage (Friedhof in Alcúdia, Mallorca).

Grabstein auf wenig grünem Friedhof, beschriftet mit "Propiedad D. Catalina Garcías Serra 1917"

14 – Granta 166, Generations* – P
Ausführliche Empfehlung hier.

15 – Larissa Kikol, Signed* – P
Eines meiner Bücher des Jahres, hier steht warum.

16 – Max Porter, Grief is the thing with feathers – E

17 – Robert Menasse, Die Vertreibung aus der Hölle* – E
Begründete Empfehlung hier.

18 – Caroline Wahl, 22 Bahnen – B

19 – Reinhard Kaiser-Mühlecker, Wilderer* – B
Hier ausführlich besprochen.

20 – Ruth Klüger, Katastrophen. Über deutsche Literatur* – P

21 – Louise Erdrich, The Night Watchman* – E
Mehr dazu hier.

22 – Zoë Beck, Memoria – B

23 – Nele Pollatschek, Dear Oxbridge: Liebesbrief an England – E

24 – Didier Eribon, Sonja Finck (Übers.), Eine Arbeiterin – B

25 – Joseph Roth, Hiob* – E
Ich mochte diesen kleinen Roman von 1930 sehr, den Hintergrund des bitterarmen Shtetl-Alltags, die realistische Schilderung einer Auswanderung, und ich mochte die Titelfigur, Hiob, der nach einer Enttäuschung zu viel bockig mit seinem Herrgott bricht. Nahaufnahme eines liebevollen Blicks auf eine mittlerweile vergangene Welt.

26 – Gabriele Tergit, Käsebier erobert den Kurfürstendamm – E

27 – Ulrike Draesner, Die Verwandelten* – B
Ein weiteres Highlight meines Lesejahrs und eine unerwartete Verarbeitung von Flucht und Vertreibung im Dritten Reich – auch hier inklusive deren Fortsetzung nach dem Krieg. Hier ausführlich besprochen.

28 – Dana von Suffrin, Otto – E

29 – Fang Fang, Michael Kahn-Ackermann (Übers.), Glänzende Aussicht – B

30 – Vicki Baum, Es war alles ganz anders. Erinnerungen – E

31 – Scott Alexander Howard, The other valley* – B
Ausführliche Empfehlung hier.

32 – Granta 168, Significant Other – P

33 – (Meg Rosoff, The Great Godden) – E

34 – Helena Adler, Die Infantin trägt den Scheitel links* – B
Aus Österreich kommt mit lieb gewonnener Regelmäßigkeit immer wieder ein Roman, der mich umhaut, diesmal dieser. Adler macht Wunderdinge mit Sprache, in fast lyrischer Dichte.

35 – Colm Tóibín, Brooklyn – B

36 – Granta 167, Extraction – P

(Miranda July, All Fours – B)

37 – Anja Reich, Simone* – E
Hier unten besprochen – eine DDR- und Wende-Verarbeitung.

38 – Zora del Buono, Seinetwegen – B

39 – Jenny Erpenbeck, Kairos.* – B
Literatur darf eine Zumutung sein, hier genauer erläutert.

40 – Ted Chiang, Exhalation – E

41 – David Schalko, Schwere Knochen* – E
Eine Wucht von einem Roman, in vielerelei Hinsicht, hier ausführlich besprochen. Und Anlass, dass ich endlich mal den Filmklassiker The Third Man ansah.

42 – Roxane Gay, Hunger: A Memoir of (My) Body – E

43 – Elif Shafak, Michaela Grabinger (Übers.), Ehre – E

44 – Dörte Hansen, Altes Land – E

45 – Colm Tóibín, Long Island – B

46 – Karsten Dusse, Das Kind in mir will achtsam morden – B

47 – Raphaela Edelbauer, Die Inkommensurablen – B

48 – Percival Everett, James – E

49 – Ian McEwan, Nutshell* – P
Hihihi, welch meschuggene Idee. Dass sie funktioniert, erkläre ich hier.

50 – Granta 169, China* – P
Große Freude über eine wirklich gelungene und bereichernde Ausgabe des Literatur-Magazins. Hier unten nenne ich Details.

51 – Jonathan Lethem You don’t love me yet – E

52 – Matt Haig, The Midnight Library – B

53 – Annette Hess, Deutsches Haus* – E
Letztendlich doch eine Empfehlung, allein weil mir so Vieles an diesem Roman nachging. Hier habe ich über ihn geschrieben.

54 – Edna O’Brien, The Little Red Chairs – E

55 – Samantha Harvey, Orbital – E

Journal Freitag, 27. Dezember 2024 – Fahrt nach Berlin, Roman The Little Red Chairs, Film All We Imagine as Light

Samstag, 28. Dezember 2024

Eine eher unruhige Nacht, aber ich stand recht frisch früh auf. So hatte ich reichlich Zeit für Reisevorbereitungen, auch wenn unser ICE nach Berlin noch vor neun fuhr.

Einen Bahnsteig außen entlang fotografiert, rechts fährt ein ICE ein, links geht eine Frau in schwarzer Kleidung, weit weg im Hintergrund die Bögen einer schmiede-eisernen Brücke

Hier fährt er ein, unser Zug, in geradezu klirrendem Frost.

Dieser Frost begleitete uns vorm Zugfenster bis Berlin, mal mit dicken Raureif, mal mit eher verhaltenem, mal in Nebel, dann wieder unter Hochnebel. Bei überpünktlicher Ankunft in Berlin Hauptbahnhof tat der Berliner Winter im Gegensatz zum Vorjahr seinen Job: Bleihimmel, kalt.

Im Zug las ich Edna O’Brien, The Little Red Chairs aus, bis zuletzt wusste ich nicht recht, welche Geschichte hier eigentlich erzählt wurde. Dass der geheimnisvolle Naturheiler, der im irischen Dorf auftaucht, nach dem Vorbild des Kriegsverbrechers Radovan Karadžić gezeichnet war, wusste ich bereits aus dem Klappentext: Keinerlei Spannungsbogen, und noch vor der Hälfte des Romans wurde er verhaftet und vor das UN-Tribunal in Den Haag gebracht. Dazu kam die Geschichte einer verheirateten Dorfbewohnerin, die eine Affäre mit ihm angefangen hatte und grauenhaft dafür bezahlte.

Dazwischengewoben, und das mochte ich am meisten: Sehr viele individuellen Geschichten von Migranten und Geflüchteten in der Gastronomie und Hotelerie in Irland, später in London – immer von ihnen selbst erzählt (die Anlässe waren mal Geburtstagsfeiern, mal eine Selbsthilfegruppe). Aber sie waren praktisch nicht eingebettet in die Haupthandlung.

Am meisten nahmen mich die Kapitel mit, in denen die weibliche irische Hauptfigur mit Ende 30 mittellos und ohne Kontakte in London ein neues Leben beginnen muss, irgendwie Unterkunft und Arbeit finden – ich stellte mir die völlige Verzweiflung dieser Situation vor.

In Berlin brachten wir in der Nähe des Bahnhofs Zoologischer Garten unsere Sachen in ein schönes Hotelzimmer mit Küchenzeile und gingen erstmal Frühstücken. Auf meiner Liste hatte ich das 30 Minuten zu Fuß entfernte Frühstück 3000, gegen halb zwei marschierten wir dorthin los.

Auf einem Holztisch zwei Teller, einer mit Eggs Benedict, einer mit einer Scheibe Brot mit Roastbeef und Spiegelei, dazwischen eine Tasse Cappuccino und ein Glas grüne Limonade

Ich bestellte eine Roastbeef Focaccia: Roastbeef eindeutig zu erkennen und ausgesprochen schmackhaft, auch die Scheibe Brot darunter sehr schmackhaft, aber keine Focaccia. Dazu eine sehr gute Basilikum-Ingwer-Limonade. Herr Kaltmamsell frühstückte Eggs Benedict.

Außer dem Anlass des Berlin-Ausflugs, nämlich der kabarettistische Jahresrückblick am Samstagnachmittag, hatte mein Hirn keine Pläne gemacht. Herumspazieren machte gestern in Nebel und früher Dunkelheit nicht recht Spaß, wir entschieden uns für einen Kinobesuch im Vorabendprogramm.

Vorher hatten wir noch ein wenig Zeit zum Ausruhen im Hotelzimmer, dann spazierten wir ins nahegelegene Kino Delphi Lux und sahen All We Imagine as Light.

Blick auf Kinovorhang vor Kinoleinwand, Decke, Vorhang, leere Sitzpolster sind alle knallrot, der Vorhang mit Glitzersteinchen

Großartiger Glitzervorhang!

In diesem Fall wollte ich definitiv die Originalsprachen Malayalam, Hindi und Marathi hören und sie mir mit Untertiteln übersetzen lassen, eine deutsche Synchronisation wäre mir ungeheuer gekünstelt erschienen.

Der Film gefiel mir sehr gut: Wunderbar alltagspoetische Bilder ohne leisesten Kitsch (Drehbuchautorin/Regisseurin Payal Kapadia kommt vom Dokumentarfilm), die drei zentralen Figuren, die alle in Mumbai im selben Krankenhaus arbeiten, interessierten mich sehr – und wurden von hervorragenden Schauspielerinnen dargestellt. Und ich war sehr von einem Erzählfluss angetan, der nur wenig erklärt. Leider konnte ich aber die Sprachen nicht unterscheiden, dabei spielte die Verschiedensprachigkeit durchaus eine Rolle.

Hier der US-Trailer:

Aktivieren Sie JavaScript um das Video zu sehen.
https://www.youtube.com/watch?v=2mgQcpmYr_A

Auf dem Weg zurück ins Hotel fragten wir uns unter anderem, an wen sich der Film richtete – wohl am ehesten an westliches Publikum?

Zum Abendessen hatte wir uns in einem Supermarkt eine Dose Linseneintopf besorgt und nutzte die Küchenzeile. Schokolade zum Nachtisch gab es auch.

§

Ingolstädter Geschichte in der taz:
“Widerstandskämpfer war in Wirklichkeit Nazi”.

Ich weiß, dass Thomas Schuler schon als Donaukurier-Volontär (seine Ausbildungszeit überschnitt sich mit meiner) zu unserem damaligen Verleger Reissmüller recherchierte, anfangs noch in erster Linie über seine fragwürdigen Methoden, Konkurrenzmedien in Ingolstadt zu unterbinden: Unter uns Volontär*innen kursierte eine Hefter mit dem Material, das der Schuler Tom (wir kannten uns schon vorher von den Pfadfindern) zusammengestellt hatte.

Journal Dienstag, 17. Dezember 2024 – Hochleistungstag und Annette Hess, Deutsches Haus

Mittwoch, 18. Dezember 2024

Vor Wecker aufgewacht, aus eigentlich gutem Schlaf war ich nachts mehrfach wegen Schmerzen im linken Fuß aufgewacht. Vielleich als Gute-Nacht-Snack doch hin und wieder eine Ibu.

Früher als sonst das Haus verlassen. Das war mir recht, denn gestern war der letzte Großkampftag vor den Weihnachtsferien.

Während ich durch die Gänge und Treppenhäuser peste, rauslief zum Einkaufen, weiter wuselte, schien draußen die Sonne, die Luft wurde mild. Die 15.000-Schritt-Marke riss ich noch vor 12 Uhr. Dann war aber das Heftigste rum, ab jetzt konnte ich verhältnismäßig geordnet weiterarbeiten.

Zu Mittag gab es Mandarine, Apfel sowie Mango mit Sojajoghurt.

Sehr emsiger Nachmittag, vor Feierabend nochmal Hochdruck. Gestern arbeitete ich definitiv wieder für zwei, das will ich doch gar nicht.

Eher spät verließ ich beladen das Büro (Tablett, Obstkorb – gibt es vor Ort halt genauso wenig wie einen Catering-Dienst) – und merkte vorm Haus, dass ich überhaupt keine Lust hatte, so nach Hause zu laufen, zumal mir die Füße vom reichlichen Rumrennen über den Arbeitstag weh taten. Also wollte ich mich vom 62er-Bus gemütlich heimschaukeln lassen.

War dann nicht so gemütlich, weil ich erst ungewöhnlich lange auf den Bus warten musste (eigentlich 7-Minuten-Takt), der dann ziemlich voll war. Egal. Jetzt war mir endlich alles egal (fast).

Völlig durch daheim. Yoga-Gymnastik tat aber gut. Und ich bekam Gutes zu essen:

Aufsicht aus gedeckten Tisch: links eine Schüssel mit lila Kartoffel- und orangen Karottensticks, in der Mitte ein Schüsselchen Kräuterquark, recht ein Teller mit einem gelben Fladen, darauf Käseschnitze

Karotten und lila Süßkartoffeln als Ofen-Fritten (ein paar Frühlingszwiebeln waren auch noch da), dazu Kräuterquark, außerdem eine Farinata aus Maismehl mit Käse. Nachtisch Süßigkeiten.

Fassungslosigkeit, als mir klar wurde, dass erst Dienstagabend war.

Früh ins Bett zum Lesen, Annette Hess, Deutsches Haus ausgelesen.

Die Geschichte aus den 1960ern um den Frankfurter Auschwitzprozess aus der Perspektive einer einheimischen Dolmetscherin (meist, wir bekommen hin und wieder auch die personale Perspektive anderer Figuren) versucht die gesellschaftliche Atmosphäre der Zeit zu vermitteln. Wie es für jemanden aus der Generation meiner Eltern gewesen sein muss, Anfang bis Mitte der 1940er geboren, die Abgründe der Gräuel vom Auschwitz zu entdecken. Und die Rolle, die die eigenen Eltern dabei spielten. Wie unterschiedlich der Umgang mit dieser Entdeckung war, von hartnäckiger Leugnung bis zu tiefem Bedürfnis nach Wiedergutmachung. Auch die Opferseite wird differenziert und vielfältig geschildert, als Zeugen treten Individuen auf und ihr unterschiedlicher Umgang mit unvorstellbaren Erlebnissen.

Gleichzeitig zeigt der Roman anhand der Hauptfigur Eva Bruhns (auch an ihrer Schwester), wie sich die Rolle und die Ansprüche von Frauen in Deutschland in dieser Zeit änderten, gerade in Abgrenzung zu ihrer Mutter. Am Rande tauchen Entwicklungen wie die Einwanderung von Gastarbeitern auf (die soweit ich weiß damals und bis in die späten 70er eher “Fremdarbeiter” genannt wurden, das kannte man aus dem Dritten Reich so für ausländische Arbeitskräfte – die allerdings Zwangsarbeiter*innen gewesen waren), inklusive rassistischer Ablehnung.

Der beste erzählerische Kniff: Missverständnis weil Fremdsprache. An einigen Schlüsselstellen übersetzt die Hauptfigur Eva Bruhns aus dem Polnischen falsch – anfangs weil sie als eigentlich Fachübersetzerin für Technisches die Wörter nicht kennt, später weil sie sich verhört (ich gehe mal davon aus, dass die sprachlichen Ähnlichkeiten sauber recherchiert sind, leider spreche ich nicht das Polnisch dieser meiner Familienseite). Das hätte man ausbauen können.

Sollte die falsche Verbform für die indirekte Rede (taucht noch an einer einzigen weiteren Stelle um die Figur Jürgen auf) in der Absicht verwendet worden sein, eine Lüge zu markieren (bis zum Schluss bleibt die Erzählinstanz abstrakt) – hinkt das Stilmittel auf beiden Beinen. Hätte man schon machen können, aber dann hätten auch alle Lügen der Angeklagten im Gerichtsprozess so geschrieben werden müssen und alle weiteren Lügen – aus denen der Roman ja im Grunde gewoben ist, aus Lügen und Selbstlügen. Wäre halt unlesbar geworden.

Journal Dienstag, 10. Dezember 2024 – Dezemberdunkel

Mittwoch, 11. Dezember 2024

Tief und gut geschlafen, das war schön.

In dunkler Nacht aufgestanden, in dunkler Nacht in die Arbeit marschiert. Auf den Dächern lag ein Hauch Schnee, doch der Boden war nass und ungefrostet.

Beim ersten Blick ins Arbeitspostfach wurde mir diesmal nicht sofort schlecht – ein guter Tagesanfang! Ich werkelte den Vormittag emsig durch, genehmigte mir einen Marsch (unter düsterem Dezemberhimmel) zu Mittagscappuccino ins Westend. Wohltuende Bewegung an der Draußenluft.

Mittagessen: Halber Apfel (und zwar die äußere Hälfte, die innere war verfault), Mango mit Sojajoghurt. Was mir eigenartigerweise erstmals schmerzhaftes Bauchkneifen in den Stunden danach bereitete.

Nachmittagsarbeit ein wenig durcheinander, aber ohne Panik machbar. Außerdem mal wieder Anlass fürs Hadern mit dem Duzen/Siezen im Berufsleben. Hell wurde es draußen gar nicht, wir stecken in den dunkelsten Tagen/Wochen des Jahres. Der Arbeitstag endete wieder eher später.

Auf dem Heimweg kurze Einkäufe, eigentlich nur, um den Weg zu verlängern. Zu Hause eine Runde Yoga-Gymnastik mit Mady, eine kurze Einheit mit sportlichen Flows. Als nächstes turne ich die eingemerkten Yoga-Videos von Jessica Richberg ab, und dann mal sehen, ob es auch für Anfang 2025 ein neues 30-Tage-Programm von Adriene gibt.

Wieder sorgte Herr Kaltmamsell fürs Nachtmahl, er baute es um die Guacamole herum, die er aus den ersten nachgereiften Crowdfarming-Avocados rührte.

Aufsicht auf einen gedeckten Tisch mit Glastellern und Schälchen voll von den Dingen, die drunter stehen

Quesadillas, Hackfleisch, Weizentortillas, Tomätchen, Jalapeños, Kimchi, Sauerrahm. Das war sehr gut.

Zum Nachtisch servierte Herr Kaltmamsell zum Test kleine Christmas Puddings mit Sahne: Er hat eine ganze Reihe hergestellt, jetzt wissen wir, dass sie definitiv gut genug zum Verschenken sind (so fruchtig!).

Erste Restaurantreservierung für den Berlin-Urlaub am Jahresende.

Im Bett las ich weiter in Annette Hess, Deutsches Haus: Die Geschichte aus den 1960ern um den Frankfurter Auschwitzprozess aus der Perspektive einer einheimischen Dolmetscherin gewann an Fahrt.

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Schöner Überblick über die aktuellen Anwendungen von Algorithmen, die derzeit “KI” heißen, vom WDR in der ARD-Mediathek:
“Unser Leben mit KI: Wie künstliche Intelligenz unsere Arbeit revolutioniert”.

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There’s one thing right with our world, and it’s Dick Van Dyke.

Sie kennen ihn aus Mary Poppins auf den Dächern Londons, ich auch davon, dass Herr Kaltmamsell immer auf ihn hinweist, wenn er in irgendeinem Film oder einer Fernsehserie auftaucht.
“99-Year-Old Dick Van Dyke Sings & Dances in a Touching New Coldplay Video, Directed by Spike Jonze”.