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Journal Mittwoch, 9. Oktober 2024 – Dörte Hansen, Altes Land

Donnerstag, 10. Oktober 2024

Eine bessere Nacht, das Arbeitsleben hielt mich nicht mehr ganz so wach. Dennoch war mir klar, dass ich keine Energie für den ersten Theatertermin meines Abos 2024/25 am Abend aufbringen würde, früherer Feierabend war sicher nicht drin.

Nachdem ich zu ausgiebigem Regen eingeschlafen war, überraschte mich der klare Himmel auf dem Weg in die Arbeit – und erfreute mich.

Noch von Mallorca aus hatte ich meinen Mittagstermin gebucht: Beinenthaarung. Und den wollte ich wegen unangenehmer Flauschigkeit unbedingt wahrnehmen, Arbeitsdruck hin oder her (ich ließ bereits eine Firmen-interne Veranstaltung ausfallen, die mich eigentlich interessiert hatte). Also marschierte ich durchs sonnige Westend in Turbotempo dorthin. Wieder fiel mir unterwegs auf, dass die Gschwerl-Szene am Gollierplatz immer größer wird. Als Anwohnerin des Nußbaumparks habe ich ja über viele Jahre einen Blick für diese Menschengruppe entwickelt: Am Nußbaumpark wächst sie Richtung Marien-Apotheke, außerdem haben sich Gruppen am Anfang der Reisingerstraße gebildet. Und die Handvoll am Gollierplatz ist jetzt auf bis zu 20 Personen gewachsen.

Nach dem Körperpflege-Einsatz durch milde Sonne zurück ins Büro gepest. Erst jetzt Mittagessen: Apfel und restliches Roggenvollkornbrot.

Über den Arbeitsnachmittag durch verlor sich erstmals seit Montagmorgen das Zeitraffer-Gefühl, endlich schaffte ich Dinge ohne Gehetzheit weg, nahm mir wirklich alle E-Mails aus meinem Urlaub vor. (Aber noch gibt es eine besonders unangenehme Sache, um die ich mich drücke.)

Schöner Heimweg durch sonnige Herbstfarben. Einkaufsstopp beim Aldi: Süßigkeiten.

Daheim Waschmaschinenbefüllen, Maniküre, Yoga-Gymnastik. Keine Chance auf Theaterbesuch.

Herr Kaltmamsell hatte gekocht: Krautwickel auf polnische Art. Also eine Annäherung an die meiner polnischen Oma, die er allerdings nur aus meinen Erzählungen kennt (und die legendär waren).

Aufsicht auf einen Topf voller Kohlrouladen in Tomatensauce

Gefüllt mit einer Hackfleisch-Reis-Mischung. Sie waren nicht mal halb so groß wie die meiner Oma – aber das lag auch daran, dass sie riesige Spitzkohl-Blätter zur Verfügung hatte und Herr Kaltmamsell einen viel kleinerern Sptzkohl aus Ernteanteil verwendete. Die Version von Herrn Kaltmamsell schmeckte hervorragend – auch wenn die Krautwickel meiner Oma unerreichbar bleiben werden (sie hatte schon die letzten Jahre ihres 85 Jahre dauernden Lebens keine Lust mehr, sich die viele Arbeit zu machen, der letzte Genuss ist also ein paar Jahrzehnte her).

Endlich meinen Handy-Vertrag umgestellt. Ich hatte einen sehr teuren, mit dem ich im Grunde mein iphone abstotterte, fand ich in Ordnung. Doch dessen Laufzeit endete mit Januar. Seither schaffte ich es nicht, mich zum Wechsel aufzuraffen und vergab damit die Chance, mehrere hundert Euro zu sparen. Ich muss es ja haben, meine Güte.

Auch ein endlich: Nachricht über meinen Vater, der geplant im Krankenhaus liegt. Bislang alles ordnungsgemäß.

Als auf der sonntäglichen Familienfeier die Senior-Herren erwähnten, sie seien ja mit 58 respektive 60 Jahren in Rente gegangen, musste ich durchaus schlucken. Bis mir einfiel, dass beide bereits mit 15, 16 Jahren ins Arbeitsleben gestartet waren.

Im Bett Dörte Hansen, Altes Land ausgelesen, bis zuletzt durchaus gern. Ich mochte die Dichte der Erzählung – wobei ich streckenweise etwas zu viel in den kurzen Roman reingesteckt fand, die Dichte hatte einen Preis: Die Figuren waren mir zu deutlich erklärt und vor-analysiert, statt dass sie sich durch Handlung entfalteten, viel kippte ins Klischee. Manche Passagen lasen sich wie die Zusammenfassung von etwas Längerem (z.B. Marlenes und Annes Reise nach Polen), da konnte sich die Erzählung natürlich nicht mit Entfaltung aufhalten. Unwohl war mir oft bei dem kolumnenhaft launigen Tonfall, der einerseits meist eh offene Stereotyp-Türen einrannte, zudem menschliches Leid verächtlich machte. Keine der Figuren kam mir nahe, am ehesten noch der ordnungsliebend verlorene Heinrich Lührs. Dass diese Mischung aus Launigkeit und Naturbeschreibung zu einem Bestseller wurde, kann ich aber sehr gut verstehen.
Was bei meiner eigenen Lektüre mitschwang: Alle angerissenen Themen habe ich erst kürzlich deutlich besser literarisch verarbeitet gelesen.
– Landleben in Reinhard Kaiser-Mühlecker, Wilderer (inklusive Spannungen mit Stadtleben) und Ewald Arenz, Alte Sorten (hier glaubwürdige, ernst genommene Figuren)
– Vertriebenen-Flucht am Ende des Zweiten Weltkriegs und Konflikte beim Einquartieren in Deutschland in Ulrike Draesner, Die Verwandelten (die nicht explizit immer wieder darauf hinweisen muss, dass diese Generation über vieles schweigt)

§

Großen Dank an Stefanie Sargnagel: Ich muss mich seit einiger Zeit gezielt schützen vor Reportagen zu den Grauen der Zeitgeschichte, menschlich nachvollziehbare Einzelfälle überforden mich. Sargnagels Perspektive aber ist entfernt genug davon, sodass ich mich darauf einlassen kann: Von Lampedusa aus stieg sie mit einem Sea-Watch-Team in ein Flugzeug, um aus der Luft Menschenrechtsverletzungen zu beobachten.
“Mit Stefanie Sargnagel und Sea-Watch vor Ort auf Lampedusa”.

Journal Freitag, 4. Oktober 2024 – München mit kaltem Regen und Oktoberfest-Armageddon

Samstag, 5. Oktober 2024

Nicht so lange geschlafen, wie ich gerne hätte, die erste Nacht zurück im eigenen Bett immer seltsam. Aber so hatte ich mehr vom Tag.

Der Arbeitsrechner, den ich zur Sicherheit mit heim genommen hatte (mögliche Pandemie, E-Mail-Check am letzten Urlaubstag), diente nicht sofort zur Überbrückung, bis ich das neue Ladekabel für mein MacBook für das in Mallorca vergessene hatte: Nach drei Wochen Pause musste er erstmal eine knappe Stunde Updates fahren. Währenddessen packte ich meinen Koffer aus, startete die erste Waschmaschine, verräumte den Koffer im Keller, machte es mir warm, schaute in den düsteren, kalten Schnürlregen vorm Fenster (greisliches Wetter bedeutete zumindest Aussicht auf weniger Oktoberfest-Radau).

Beim Kofferauspacken stellte ich fest, dass von den zwei einzigen Mitbringseln (für meine Arbeits-Vertretung, deren Job das nach der Umorganisation eigentlich nicht mehr gewesen wäre) eines trotz zahlreicher Sicherheitsmaßnahmen unbrauchbar war: Der Schraubdeckel des Glases Orangenmarmelade aus Sóller, fest eingewickelt in mehrere Teile Schmutzwäsche und in eine Plastiktüte, hatte sich geöffnet, die Flüssigkeit der Marmelade war ausgelaufen – wirklich ärgerlich. Bleibt nur noch ein lahmes Mitbringsel.

Schon während des Bloggens traf die Nachricht von Apple ein: Netzteil abholbereit.

Sehr gefreut hatte ich mich auf eine Schwimmrunde, dass ich dafür mit Schirm losziehen musste und die U-Bahn zum Olympiabad nehmen, schmerzte mich wenig. Das Schwimmen war dann leider eher anstrengend und vergnügungsarm, dann schmähte mich auch noch jemand, der in mich reingeschwommen war, ich hätte fast vorzeitig weinend das Becken verlassen.

Was mich zu Nachdenken über den Rat führte, sich verbale Attacken “nicht zu Herzen zu nehmen”. Geht das denn? Verletzung ist Verletzung: Auch wenn ich das Hängenbleiben am Tischeck ignoriere, bleibt davon ein schmerzender blauer Fleck. Auch wenn der Pöbler Unrecht hat, bleibt der Schmerz des Angriffs und der Demütigung.
I bruise easily

Auf der Heimfahrt stieg ich an der Münchner Freiheit aus, um in der Clemensstraße Espressobohnen-Nachschub zu besorgen.

Vor verregneten Altbaufassaden ein Brunnen mit Bronzefigur eine kurvigen Frau mit Krönchen

Mal wieder Freude über das Denkmal für Bally Prell – die Schönheitskönigin von Schneizlreuth, die im dahinter liegenden Haus gewohnt hat. Hinweis für Auswärtige: Auch in München gab es mal Zeiten von Volkskunst ohne Dirndl.

Espresso bekam ich nicht: Geschlossen wegen Urlaub (Oktoberfestfluchtverdacht).

Am Marienplatz holte ich im Apple Store mein Netzteil ab: Er war gepackt voll, und zu meiner Verdutzung fand ich mich in einer 30-köpfigen Abhol-Schlange wieder (es werden derzeit wohl Neuester-heißer-Scheiß-Produkte von Apple beworben) – doch das Ausgabesystem ist dort so gut organisiert (etwa vier gut gelaunte Angestellte kümmerten sich um Einlesen von Liefernachricht und Aushändigen schon in der Schlange), dass ich nach zehn Minuten auf dem Heimweg war.

Frühstück deutlich nach drei. Appetit hatte ich immer noch nicht, aus Vernunftgründen aß ich frisch gekauftes Roggenvollkornbrot mit Butter und Tomate / Butter und Honig.

Dann eine weitere Runde draußen durch den Regen: Lebensmitteleinkäufe beim Vollcorner – und ich Dummerchen vergaß, dass mich der Weg dorthin durchs Oktoberfest-Armageddon führt. Wie ich mir schon in der vorhergehenden Nacht auf dem (Theresienwiesen-nahen) Heimweg dachte: Wer’s nie erlebt hat, kann es sich nicht vorstellen. Die Süddeutsche richtet ihren Lokalteil dieses Jahr ja ganz aufs Oktoberfest-Bejubeln aus (?) – wie wäre es mit einer Bilderstrecke “24 Stunden rund um die Theresienwiese”?

Fenster hinaus in einen verregneten Park, auf der Fensterbank eine Glasvase mit zwei großen, knallpink blühenden Gladiolen und vier dicken altrosa Rosen

Herr Kaltmamsell hatte zur Begrüßung mein Schlafzimmer geschmückt (sind das die pinkesten Gladioen ever oder was?), im Wohnzimmer standen wunderschöne Hortensien.

Ebenfalls sehr gefreut hatte ich mich auf Yoga-Gymnastik: Großes Vergnügen und wohltuend.

Währenddessen mühte sich Herr Kaltmamsell in der Küche mit dem Abendessen – Mühe, weil sich unser Zerstörer, der Pürierstab, endgültig verabschiedet, mittlerweile hält der Einschaltknopf nur mit Kraft in der Eingeschaltet-Position. Anlass für mich, endlich den längst recherchierten Nachfolger zu bestellen. Wenn auch der über 30 Jahre hält, lohnt sich die Investition, zumal ich mit dem Vorläufer-Gerät dieses Herstellers sehr zufrieden war: Einmal sogar das Kabel ersetzt, weil das Original auf einer heißen Herdplatte verschmurgelt war, das Gehäuse ließ sich gut öffnen.

Abendlicher Alkohol war erstmal ein Glas Champagner: Ich hatte endlich rechtzeitig daran gedacht, den Pommery Brut royal (ein Weihnachtsgeschenk) kalt zu stellen – schmeckte mir sehr gut.

Nachtmahl in zwei köstlichen Gängen:

Bast-Tischsets, darauf Glasteller mit Schnitzen Roter Bete mit hellbraunen er Sauce und Schnittlauch

Rote Bete (Ernteanteil) lauwarm mit Haselnuss-Ingwer-Sauce, Schnittlauch, schwarzem Sesam – ganz wunderbar und zufällig vegan (Originalrezept mit Erdnussbutter, Haselnuss machte sich aber sehr gut).

Weißer Teller auf Bastset, darauf brauner Brei mit Kürbisstücken, Orangen Öl, geriebenem Parmesan

Grünschaliger Hokaido (Ernteanteil) mit Polenta und Frischkäse als Brei, darauf gebratene Kürbiswürfel und Chili-Öl. Zwei Portionen für mich. (Originalrezept verwendet Butternut-Kürbis.) Dazu ein baskischer Txakoli. Nachtisch Schokolade.

Im Bett neue Lektüre: Dörte Hansen, Altes Land – darüber hatte ich viel Interessantes, vor allem aber extrem unterschiedliche Urteile gehört, jetzt wollte ich selbst mal (gab’s nicht in der Stadtbibliothek, kaufte ich also). War schonmal angetan vom Erzähltempo: In den ersten 10 Prozent steckt so viel Inhalt, da machen andere ganze Fernsehserien draus.

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Lorenzo Annese kam 1958 als junger Mann aus Apulien nach Niedersachsen und wurde der erste ausländische Betriebsrat der Bundesrepublik. Mit 87 erhielt er jetzt das Bundesverdienstkreuz – eine spannende Lebensgeschichte:
“Der Zusammenschweißer aus Italien”.

Journal Donnerstag, 3. SeptemberOktober 2004 – Zweiter Tag Heimreise mit Lehrreichem

Freitag, 4. Oktober 2024

Der zweite und letzte Tag Rückreise verlief weniger anstrengend als befürchtet. Zwar war ich durchgehend angespannt, doch nicht mal die letzten beiden Stunden Zugfahrt Stuttgart-München fühlten sich wirklich elend an, und ich traf noch vor Mitternacht daheim ein.

Der Schlaf im Barceloneser Hotel war ok und genug gewesen. Ich finalisierte so stromsparend wie möglich den Blogpost, recherchierte und kaufte online ein Ladekabel für mein zehn Jahre altes MacBook Pro, das angeblich schon heute zur Abholung im Apple Store bereit liegen würde (da Spezialkabel für nicht mehr produziertes Modell, verließ ich mich nicht auf Vorrätigkeit). Zudem hatte ich ja mein Arbeits-Notebook daheim, mit dem konnte ich überbrücken.

Spiegelselfie einer Frau mit kurzen weißen Haaren und Brille in einem kleinen Aufzug, sie trägt weiße Jacke, Messenger-Bag, vor ihr ein großer Koffer

Geduscht, gepackt, Hotelaufzug nach unten.

Der Spaziergang zum Bahnhof (auch dieser von Baustellen umgeben, der Hindernislauf erweckte wieder Heimatgfühle) war schön, ich ging inmitten von Eltern, die ihre Kinder zur Schule begleiteten, in fröhlicher und gemeinschaftlicher Stimmung und nur wenig mehr Frauen als Männer.

Große Kreuzung in einer Großstadt in Morgensonne, ein langer Bus biegt gerade um die Ecke

Barcelona gefiel mir weiterhin gut, ich mochte die Großstadtstimmung, das Viertel La Bordeta fühlte sich wohnenswert an (Einmerker für eigentlichen Barcelona-Urlaub).

Im Bahnhof kaufte ich eine große Flasche Wasser: Das Leitungswasser in Barcelona schmeckte so greislich, dass auch ich es mir nicht antun wollte, gechlort und modrig. Also füllte ich nicht wie sonst die für die Reise mitgebrachten Sportflaschen (in Esporles und Valldemosa hatte das Leitungswasser sogar besonders köstlich geschmeckt), sondern erzeugte Plastikmüll.

Vor dem Bahnsteig zu meinem Zug Sicherheitsschleuse wie am Flughafen: Ticket-, Gepäck- und Körperkontrolle mit entsprechenden Warteschlangen. Hier könnte Söder noch aufrüsten, in bayerischen Fernbahnhöfen kann man einfach so in die Züge ins Ausland spazieren.

Lehrreiche Fahrt nach Paris:
1. Auch TGV kann Verpätung. Wir fuhren 10 Minuten nach Fahrplan von Barcelona ab, bis Paris hatten wir bis zu 30 Minuten Verspätung.
2. Auch TGV kann keine Internetverbindung. Da sich erwies, dass auch Spanien und Frankreich weitläufige Funklöcher können, haschte ich wie in Deutschland immer wieder irgendeiner Art von Verbindung.
3. Wie schon auf der Hinfahrt waren die spanisch gemeinten Versionen der Durchsagen vor lauter französischem Akzent und Genuschel komplett unverständlich. (Mir ist diese kindliche Taktik zu Verschleierung von Unkenntnis nicht fremd.)
4. Im TGV-Zugrestaurant bedeutet “Cappuccino” schlichten Kakao. Das musste ich feststellen, als ich einen solchen nach ausdauerndem Schlangestehen als Mittagscappuccino geholt hatte und reklamierte, das sei doch aber chocolate: Die wirklich freundliche Angestellte hinter der Theke verstand nicht, was es zu reklamieren gab, ich hätte doch Cappuccino bestellt, und das sei spanisch “chocolate”.

Blick aus Zugfenster auf Landschaft mit Binsenwiesen und Wasserflächen, im Vordergrund ein Fensterbrett, darauf ein Becher, auf dessen Inhalt man Milchschaum sieht

Dabei wäre die Aussicht dazu gerade herrlich gewesen. So kippte ich das Getränk halt ins Zugklo, auf Kaba hatte ich wirklich keine Lust. Brotzeit um zwei: Apfel, zwei gut durchgequetschte Eiweißriegel aus dem Wanderproviant.

In diese Richtung brauchte der Zug Barcelona-Paris fast eine Stunde weniger als hin: Er hielt auf der französischen Seite nicht an jeder Strandhütte. Doch die halbstündige Verspätung bis Paris (die beharrlich als 15 Minuten durchgesagt wurde) machte mich ein wenig unruhig, obwohl sie mir weiterhin über eine Stunde für den Wechsel zwischen Gare de Lyon und Gare de l’Est ließ: Der Zeitaufwand des Transfers zwischen den Bahnhöfen in Paris liegt nicht in den eigentlichen Fahrten und Übergängen, sondern im Fahrkartenkauf an den Automaten. Daran lange Schlangen ungeübter Touristen, da dauert der Ticketkauf schnell mal 20 Minuten (gestern mitgestoppt). Trotzdem fand ich am Gare de l’Est noch Zeit für die Besorgung eines Abendessens inklusive Wasserkauf (noch mehr Plastik).

Mauer mit Graffiti vom Zug aus gesehen, darüber wolkiger Himmel

Nach den ersten 20 Minuten der Fahrt Paris-Stuttgart hatte dieser TGV bereits 10 Minuten Verspätung. Diesmal saß ich auf einem Fensterplatz, ich sah hinaus in die französische Landschaft, solange das Tageslicht noch etwas erkennen ließ. Um acht packte ich mein Abendessen aus: Körner-Baguette mit Tomate, rohem Schinken, Mozarella, außerdem ein Pain au raisins, beides bereitete mir Vergnügen.

Die immer größere Verspätung beunruhigte mich weniger: Mit nur (heutzutage) elf Minuten Umsteigezeit würde ich in Stuttgart zwar meine gebuchte Verbindung verpassen, doch um diese Zeit gab es überraschend viele ICEs nach München. So nahm ich dann auch einfach den nächsten, Platz hatte dieser ohnehin genug.

München empfing mich sehr kühl: Schon in Paris hatte ich zu Jacke und T-Shirt einen Pulli angezogen, jetzt wickelte ich meinen Schal um den Hals. Und dann fuhr ich um halb zwölf mit meinem Koffer Slalom nach Hause um Wiesnpizzen, Rikscha-Rowdies und viele, viele torkelnde Oktoberfest-Cosplayer*innen. Ich muss künftig meine Oktoberfestflucht besser mit genau diesen 16 Tagen parallelisieren.

Reiseunterhaltung an diesem zweiten Tag war Elif Shafak, Michaela Grabinger (Übers.), Ehre, die letzten Seiten noch im Bett vor dem Einschlafen. War mir als eine der in der Türkei meistgelesenen Autorinnen empfohlen worden, und bei türkischer Literatur habe ich eh eine böse Lücke. Auf Deutsch hatte ich es gekauft, weil ich von einem türkischen Original ausgegangen war: Irrtum, das hat Shakaf auf Englisch geschrieben, aber jetzt war’s schon egal. Las ich gestern sehr gern, Details später.

Journal Mittwoch, 2. Oktober 2024 – Erste Etappe Rückreise bis Barcelona

Donnerstag, 3. Oktober 2024

Gut geschlafen, bei Unterbrechungen aber bereits Alltags- und Berufsängste einströmen gefühlt.

Über einer dunklen Altstadtgasse Morgenhimmel mit rosa Wolken

Eos winkte zum Abschied aus Alcúdia.

Besuch beim Pensionsfrühstück, café con leche, Plausch mit Pensionswirtin unter anderem über Filmmusik (sie ließ gerade den Soundtrack von The English Patient laufen).

Gemütlich fertig gepackt. Es gab zwar eine Busverbindung zum Hafen, doch mir war eine gute halbe Stunde Bewegung lieber.

Frau mit kurzen weißen Haaren und Brille fotografiert sich in Spiegel, hinter ihr eine dunkle Holztür, sie trägt ein rotes Oberteil, darüber schräg der breite schwarze Riemen einer Tasche

Unterwegs blieb ich an einem Biosupermarkt stehen, der die typisch spanischen Honigmelonen anbot, piel de sapo – von denen ich mich seit Jahren wundere, dass es sie in Deutschland nie auch nur halbwegs reif zu kaufen gibt. Ich testete diesen Stapel stichpunktartig: Ebenfall keine einzige essreif. Die werden einfach nicht mehr reif geerntet, warum nur? (Bleiben ja trotzdem gut transportierbar.)

Im Hafengebäude noch ein wenig Lesen, Blick aufs… Rollfeld.

Blick durch großes Fenster auf Hafenbecken, am Rand Palmen, im Hintergrund Yachten und Hügel

Blick von überdachter Gangway auf die Fähre, weiß und türkisblau mit der Aufschrift "Balnearia"

Diesmal ging’s mit einer langen Gangway aufs Schiff. Die Reederei hatte mich über WhatsApp unter anderem informiert, dass mein Sitz die Klasse “Sirene” habe. Ich hoffte ich auf ganz viele Odyssee-Zitate auf dem Schiff (Cafeteria Kirke?) – doch nichts war’s.

Erhöhter Blick durch trübes Fensterglas auf Hafenmole mit türkisblauem Wasser, im Hintergrund ein Ort und Hügel

Ablegen. Mein Platz 9U bestand aus einem riesigen Ledersessel am Fenster, das zwar recht trübe angelaufen war, aber zumindest Überblick ermöglichte.

Die sechs Stunden Fahrt bis Barcelona vertrieb ich mir mit einem Mittagessen im Selbstbedienungsrestaurant (gedünstetes Fischsteak mit Pommes und Salat – na ja), Musikhören mit Wassergucken auf Deck (die Luft warm und nur wenig windig), Zeitung- und Romanlesen.

Interessante Erfahrung beim Lesen drinnen im breiten Ledersessel: Die leichte Bewegung und die Maschinengeräusche (Gasturbinen, stand außen auf dem Schiff) fühlten sich an wie im Flugzeug.

Blick über eine weiße Reling, an der ein roter Rettungsring hängt, auf dunkelblaues Meer

Blick über Reling aufs Meer, in dem sich trübe die Sonne spiegel, der Himmel ist verschieden grau

Ich las Roxane Gay, Hunger: A Memoir of (My) Body aus: Eine sehr kluge und sehr, sehr dicke Frau in ihren 40ern schreibt über ihren Körper. Wie es kam, dass sie als schlanke Zwölfjährige, die älteste Tochter erfolgreicher Einwanderer aus Haiti nach USA, immer mehr aß, wie es ist, damit nicht aufhören zu können, wie der Alltag damit aussieht. Nichts davon las sich wirklich überraschend, und doch ging es mir sehr nahe. Gay befasst sich mit vielen Details: Sport, Kleidung, die Bestürzung der Veranstalter, wenn sie als noch unbekannte Autorin zu ihrem ersten Bestseller, aber halt mich diesem ihrem voluminösen Körper auf Lesungen auftauchte, die Bemühungen ihrer Familie (wobei sie klarmacht, dass ihre wirklich liebevollen Eltern, die sie bedinungslos unterstützen, sie nicht vor ihrer Lage bewahren konnten), ihre Zerrissenheit als Feministin zwischen Selbsthass und Selbstbestärkung. Aus all dem wurde eine Autobiografie entlang ihres Körpers, so offen und sachlich wie ihr möglich formuliert, ich merkte einerseits die schreiberische Routine, andererseits das Ringen.

Das (E-)Buch überbrückte gut, dass es an Bord zwar ein super WLAN gab, dieses aber keine Internetverbindung hatte. Als ich mit Hunger durch war, hatte ich auch wieder Mobilfunksignal.

Durch verschwommenes Fenster Blick auf Meer mit Mole

Blick durch trübes Fensterglas auf eine anliegende riesige weiße Yacht mit futuristischer Form

In Barcelona schlechtes Wetter, die dunkelgrauen Wolken sahen nach Regen aus. Die Fähre legte weit außerhalb im Containerhafen an. Das bedeutete, dass wir Passagier*innen (nur ein Dutzend ohne Pkw oder Motorrad) in einen Reisebus stiegen, der eine ganze Weile bis zum Gebäude fuhr, in dem ich auf der Hinreise eingecheckt hatte.

Wieder hatte ich zwar eine Verbindung mit Öffentlichen Verkehrsmitteln zum Hotel recherchiert, ging aber lieber die knappe Stunde zu Fuß, zumal der Boden zwar nass war, es aber nicht regnete.

Kurz vor neun kam ich in meinem Hotelzimmer an.

Kleines weißes Hotelzimmer mit hellora zugezogenem Vorhang

Spartanisch, dafür teuer (Kriterien waren Empfehlung und Laufweite zum Bahnhof gewesen). Zum Nachtmahl aß ich meinen Koffer leichter: Äpfel, Mischnüsse, Trockenfeigen, Schokolade. Dabei bloggte ich, mangels Tisch mit dem Laptop auf einem Kissen auf dem Schoß, meine Standardhaltung auf Stuhl (es gab einen Stuhl!) ohne Tisch.

Als ich den Laptop vorm Zähneputzen und Zu-Bett-Gehen zum Aufladen anstecken wollte, stellte ich zu meiner Bestürzung fest: Ich hatte das Ladekabel im Hotel in Alcúdia vergessen. Vor Abreise hatte ich alle Regale, Schubladen und Schränke sorgfältig gecheckt, doch das Kabel ringelte sich noch gut getarnt auf den gemusterten Fliesen. In jeder anderen Unterkunft unterwegs hätte ich das Kabel mit ein wenig Orga wiederholen können (super Busverbindungen auf Mallorca), doch hier nicht. Hektisches Nachdenken: Zuschicken lassen würde zu lange dauern, so lange will ich nicht ohne eigenen Rechner sein. Also so schnell wie möglich Ersatz kaufen. Zefix.

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Eigener Beitrag zum Thema Körper, aber eher #Internalisierung #Dysmorphie #Depression: Wenn’s in mir dunkel wird, möchte der Selbsthass-Coach immer noch wie seit Jahrzehnten “und dick bist du auch noch!” ätzen – aber das stimmt halt echt nicht, der Reflex belustigt mich. Ich warte aber darauf, dass der Coach irgendwelche Körperstellen findet, an denen noch eine Fettschicht sichtbar ist. (Rücken zwischen BH-Gurt und Hosenbund, selbstverständlich weiß ich das längst.)

Journal Dienstag, 1. Oktober 2024 – Spaziergang mit letztem Sonne- und Farbetanken / David Schalko, Schwere Knochen

Mittwoch, 2. Oktober 2024

Gut geschlafen, wenn auch nicht lang genug. Draußen blauer Himmel, der einen warmen bis heißen Tag versprach. Ich brachte dennoch keine Lust für Strand auf, die Zeiten sind wohl einfach vorbei (merken fürs nächste Packen).

Statt dessen beschloss ich, die andere Meer-Seite, nördlich von Alcúdia, zu erkunden. Beim Frühstück tauchte ich gleich gar nicht auf, das schien mir das Einfachste. Ich packte Brotzeit und ging durch schon wieder Straßenmarkt Richtung Bonaire.

Ausblick aus sonniges Meer, im Vordergrund Felsstrand, im Hintergrund Hügel

Schnell stellte ich fest, dass es im Norden zwar interessante Felsküste gab, aber keinen Fußweg, auch nicht die Straße entlang. Ich kehrte um, zumal ich unterwegs ein Hinweisschild mit Wandersymbol zu einem Weg nach Refugi del Coll Baix gesehen hatte, anderthalb Stunden Gehzeit – den wollte ich machen. Zumal ich mich ja wieder auf Vorrat bewegen musste, Mittwoch und Donnerstag werden Reise- also Sitztage.

Im Hotel wechselte ich die Schuhe von Sandalen zu Turnschuhen und machte mich auf den Weg. Es war ein einfacher Spaziergang hauptsächlich auf Straßen und begleitet von Autoverkehr, aber ich genoss die Sonne in vollen Zügen, das Licht und die Farben, genoss nochmal den Duft von Pinien und Rosmarin, genoss die Bewegung. Auf dem letzten Stück waren viele Menschen unterwegs: Es gab einen Parkplatz, von dort kam man wohl zu Fuß zu einer Badebucht. Ich hörte erstaunlich viel Polnisch, zum ersten Mal wiederholt auch Österreichisch.

Außerdem bekam ich nochmal eine kleine Tierschau: Esel, Ziegen, erstmals freilaufende Schweine, außerdem Gänse – es war also tatsächlich Gänsequaken, was ich meine ganze Wanderung über immer wieder gehört und was mich reichlich verwirrt hatte (gestern fiel mir ein, dass in Bayern gerade die Gänsebratenzeit beginnt, Erntedank, St. Martin etc., umgehende Gelüste). Schon auf meiner ersten Spazierrunde morgens hatte ich einen Wiedehopf gesehen, zwar nur von hinten auffliegend, aber unverkennbar.

Wanderwegschilder mit Zielen und Gehzeiten

Schmaler asphaltierter Weg in der Sonne, daneben Trockenmauern und Bäume

Esel zwischen Bäumen hinter einem Zaun

Zwei hellrosa Schweine im Schatten unter einem Baumstamm, durch einen Zaun fotografiert

Schmale Straße bergauf zwischen sonnigen Bäumen

Sonnenbeschienene braune Ziegen zwischen Bäumen

Schmale Straße bergauf zwischen sonnigen Bäumen, die auf der Straße Schattenmuster werfen

Oben am Refugi war ein Rastplatz, um halb zwei machte ich Brotzeit: Vollkornsemmel mit Jamón, eine Papaya. Und ich bekam Besuch von den frei herumlaufenden Ziegen, ebenso wie andere Brotzeiter*innen am Rastplatz: Meine Wasserflasche und mein Gesicht wurden beschnuppert (Ziegen klettern ja gern). Zum Glück hatte ich schon aufgegessen und wurde nicht zum Teilen gedrängt.

Sonniger Weg bergab zwischen Bäumen, darauf Spaziergänger und ein Radler

Zwischen Nadelbäumen Blick aufs sonnige Meer

Zurück im Hotel setzte ich mich in den Innenhof zum Lesen, bis die Sonne doch zu direkt schien.

Telefonat mit Herrn Kaltmamsell, der mir versicherte, alle Heizkörper der Wohnung seien betriebsbereit, er habe das geprüft (für Freitag sind 11 Grad Höchsttemperatur angekündigt).

Beim Abendessen räumte ich auf: Es gab den restlichen Käse mit, ha!, getrockneten Feigen, die ich als Notnahrung mitgenommen hatte und wirklich nicht gesamt wieder zurückschleppen wollte. Nachtisch spanische Fabrikpralinen, gar nicht so schlecht.

Neue Lektüre: Roxane Gay, Hunger: A Memoir of (My) Body, nicht gerade ein Laune-Heber.

§

David Schalko, Schwere Knochen, ist ein Roman von 2018, der in der kriminellen Nachkriegszeit in Wien spielt, als auch Wien – das ist den meisten Deutschen nicht bewusst – in Besatzungssektoren aufgeteilt war, was so manche Korruption und kriminellen Machenschaften erst ermöglichte. Dazu der Zoo und seine Tiere, grotesker Sex, groteske Bordelle, noch groteskere Todesfälle – ich fühlte mich an John Irvings allerersten Roman erinnert: Setting free the Bears. Aber das war schon die einzige Wiederholung: Der Schauplatz, vor allem aber der Tonfall von Schwere Knochen sind ausgesprochen originell.

Die Klammer des Romans ist der Tod seiner Hauptfigur Ferdinand Krutzler, der mit seinen Freunden vor dem zweiten Weltkrieg in Wien Verbrechen begeht, mit ihnen wegen eines Hassadeurstücks ins Konzentrationslager deportiert wird, dort eine weitere Verbrecherkarriere absolviert, nach dem Krieg in Wien systematisch schmuggelt, zuhält, Schutzgelder erpresst, mordet. Alles an dieser Handlung ist eine Parallelwelt, in der eigene Regeln gelten, nichts kann vorausgesetzt werden. Die Erzählstimme tut gut daran, zwar sehr hörbar zu sein, aber nichts zu kommentieren, sie ist reine Lakonie. Was hervorragend zum Personal passt, das auch eher nicht redet (und dessen Worte fast ausschließlich in indirekter Rede wiedergegeben werden). Am deutlichsten sichtbar wird die Erzählstimme im Foreshadowing: “Dass dieser Jemand ausgerechnet der Wesely sein würde, konnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen.” Nur dass das Foreshadowing manchmal gar nicht stimmt – auch darauf sollte man sich nicht verlassen.

Es entsteht ein unangenehm lebendiges Bild einer Zeit, die gerade wieder neu literarisch aufgearbeitet wird. Die Haltlosigkeit in diesem rechtsfreien Raum ist sehr nachvollziehbar. Lese-Empfehlung, auch wenn der zweiten Hälfte Straffung durch energisches Lektorat gut getan hätte.

Mir gefällt die Besprechung in der Süddeutschen von Burkhard Müller:
“Splatter-Stoizismus nach Wiener Art”.

Der Roman bekommt durch seinen Ton und seine Haltung in den Griff, was sonst als quirliges Panoptikum nach allen Seiten auseinanderspritzen müsste wie das viele Blut, das freizusetzen die Erdberger niemals zögern. Es ist ein Ton, den man so noch nie gehört hat, und eine Haltung, die man vielleicht am besten als Splatter-Stoizismus bezeichnet.

Journal Montag, 30. September 2024 – Feldforschung Landeskunde In Alcúdia und Port d’Alcúdia

Dienstag, 1. Oktober 2024

Sonntag erster Ausruhtag in Alcúdia – was recherchierte ich Sonntagabends also für Montag? Richtig: Wanderungen um Alcúdia. Bloß dass die alle eher umständlich zu erreichen waren, Autovoraussetzungsverdacht.

Plante ich also um: 1. Einkäufe im größten gut erreichbaren Supermarkt. 2. Spaziergang nach Port d’Alcúdia und Check Fährenabfahrtsadresse, anschließend Gegend-Erkundung.

Gedeckter Tisch in einem Innenhof mit Tonfliesen und Pflanzen

Wieder verstörte ich eine herzliche Pensionswirtin, weil ich nichts von einem wirklich liebevoll komponierten und angerichteten Frühstück nahm. Fester Vorsatz, künftig konsequent auf Übernachtungen ohne Frühstück zu bestehen, auch wenn die Buchung von einer organisierenden Agentur übernommen wird.

Der größte gut erreichbare Supermarkt war in 10 Minuten Fuß-Entfernung ein mittelgroßer Mercadona.

Vor wolkenlos blauem Himmel eine Kirche aus Sandstein, davor geschlossene bunte Karussels

Auf dem Weg Morgensonne über Historischem und Neuem.

Der Supermarkt bot viel Interessantes, vor allem bei den Fertiggerichten (u.a. gefrorene Gemüsespieße zum Grillen), in der Fleischtheke Fertig-Zusammenstellung für Frito mallorquín (Lammherz, -lunge, -niere), überraschend große Auswahl an Truthahn-Schinken und -Wurst, auch die spanischen Klassiker Chorizo und Salchichón. In der Drogerie-Abteilung immer noch Warm-Enthaarungs-Wachs zum Selberschmelzen.1 Keinerlei als vegetarisch oder vegan markierte Produkte (aber Gluten-freie).

Was mich zu Beobachtungen in der Gastronomie bringt:

1. In der hiesigen Kulinarik scheint die Vegetarisch-, gar Vegan-Bewegung nicht angekommen zu sein. Im Gegenteil fallen mir besonders viele explizite Steak-Restaurants auf, die ich bislang nicht unbedingt mit Spanien verbunden hatte. Vegetarisch oder vegan Veranlagte sollten sich idealerweise schon vor Reiseantritt mit den typischen Gerichten der Landesküche beschäftigen, es gibt hier nämlich abseits von Pommes durchaus zufällig Veganes: Zum Frühstück Churros (der Teig besteht nur aus Wasser und Mehl, wird in Pflanzenöl rausgebacken), als Tapas Oliven, Pan con tomate, Papatas bravas, Pimientos de padrón, an warmen Gerichten empfehle ich seit diesem Urlaub Tumbet. Vegetarisch wären noch der hiesige Käse und Tortilla de patatas im Angebot. Wahrscheinlich gibt es auch Gemüse-Paellas.

2. Die Anzahl der Eisdielen scheint mir sprunghaft gestiegen – nein, werde ich nicht testen, mein begründetes Misstrauen gegenüber spanischer Eiscreme überwiegt die Neugier, zumal ich eh nicht die große Speiseeis-Freundin bin.

Altstadtgasse in der Morgensonne, rechts en dreigeschoßiges Haus mit grünen Fensterläden

Rechts mein Hotel, der Balkon im 1. Stock gehört zu meinem Zimmer. Nach Abladen meiner Einkäufe (Zimmer verfügt über einen Kühlschrank) packte ich Brotzeit ein und spazierte Richtung Port d’Alcúdia – über einen Umweg, um nicht nur Hauptstraße entlang zu laufen. So stieß ich auf den hiesigen Friedhof und sah mich darin um.

Aufwändiges Familiengrabmal mit Figur, beschriftet mit "Jaime Ramis y familia"

Typischer spanischer steiniger Friedhof, noch wenig genutztes Columbarium. Aber ich fand bereits ein paar deutsche und englische Namen auf Grabsteinen: Wichtiger Meilenstein der Immigration von Bevölkerungsgruppen, wenn die Verstorbenen in der neuen Heimat bestattet werden.

In Port d‘Alcúdia fand ich die Ablegestelle meiner Fähre und wandte mich dann um, den Strand entlang zu spazieren. Nach über einer Stunde war ich immer noch nicht an dessen Ende angelangt und sehr beeindruckt: Dieses Port d‘Alcúdia sieht mir nach ausgesprochen zivilisiertem Strandurlaub aus. Viele Kilometer Sandstrand mit Infrastruktur (derzeit werden die bisherigen Holzhütten-Klos durch gemauerte Häuser ersetzt), gesäumt von kleinen, dezenten Hotelanlagen und Ferienhäuschen.

Und es verkehrt täglich eine Fähre von und nach Barcelona im Hafen in der Bucht.

Sandstrand mit Strohschirmen, im Vordergrund und Gegenlicht eine große Palme

Im Vordergrund riesige alte Pinien, dahinter Strand mit Schirmen und türkisfarbenes Meer

Zwischen dicken Baumstämmen sieht man Strohschirme und türkisfarbenes Meer

Hier sah ich auch viele Familien mit Kindern und fragte mich sofort, warum die nicht in der Schule sind – aber vermutlich sind in einigen Gegenden Europas bereits Herbstferien. Außerdem fiel mir auf, dass nur ein ganz kleiner Anteil der Menschen sichtbar tätowiert war. (Insgesamt wunderbarer reality check, wie die Körper echter Menschen in ihrer ganzen Vielfalt aussehen.)

Nach dieser Stunde in die eine Richtung machte ich Kehrt, gegen zwei setzt ich mich zur Brotzeit auf eine Betonbank im Schatten einer riesigen Pinie: Vollkornsemmel mit Jamón, eine frische Ananas in Scheiben.

Der Ruf der Strandverkäufer hier übrigens: „Mojito Sangría Mojito Sangría.“

Ich habe sogar Bikini und Badetücher in meinem Koffer dabei – doch Sandstrand und Meerwasser sind zwar als Vorstellung attraktiv, de facto aber vor allem sandig. Vielleicht raffe ich mich am Dienstag auf, und sei es nur, weil ich schonmal hier bin.

Auf dem Rückweg fotografierte ich besonders schöne Anlagen für zukünftige Buchungen. Und sah eine Weile einem Hund zu, der durch einen kleinen Pool schwamm, ausstieg, einen Ball ins Wasser rollen ließ, diesem begeistert hinterher sprang, mit dem Ball aus dem Wasser stieg, ihn wieder hineinrollen ließ, begeistert hinterher sprang etc. immer wieder. Ich empfand eine tiefe Seelenverwandtschaft.

Vor einem schlichten Ferienhaus ein blauer Pool, rechts neben der Treppe dazu ein großer heller Hund

Vor einem schlichten Ferienhaus ein blauer Pool, aus dem gerade das Wasser aufspritzt

Ferienwohnanlage am Strand mit zweigeschoßigen weißen Häusern, davor Palmen

Auf einem Trafo-Häuschen in der Sonne die Aufschrift "Restaurant Peking" und Graffiti

Zurück im Hotel setzte ich mich mit meinem Laptop in den schönen begrünten Patio des Hotels zum Lesen und Schreiben – um schon nach wenigen Minuten aufzuspringen und mich in meinem Zimmer erneut von oben bis unten mit Anti-Brumm zu besprühen, weil: Bsssssss!

Ein Tisch unter einem Mauerbogen, dahinter ein begrünter Patio, auf dem Tisch ein aufgeklappter Laptop und ein Wasserglas

Keine 10 Minuten nach Rückkehr in den Patio das nächste Bsssss! Ich glaube, die Viecher halten beim Stechen einfach die Luft an. (Und ich werde in diesen zwei Wochen eine ganze Flasche Anti-Brumm verbraucht haben.)

Nach einem Nachmittag mit Roman und Internet gab’s zum Nachtmahl eine rote Paprika (meh, war was Frisches, aber das nächste Mal bitte wieder eine mit Geschmack), außerdem frische Feigen mit Käse. Ich glaube, jetzt bin ich mit frischen Feigen für diese Saison durch, zum ersten Mal im Leben. Nachtisch Schokolade, spanische Schokolade.

Im Bett David Schalko, Schwere Knochen ausgelesen – bis zuletzt angenehm quirky, auch wenn sich die zweite Hälfte streckenweise etwas zog.

  1. Ich leider gerade sehr unter Flauschigkeit, doch mein Beinhaarwachstum und der Urlaub meiner Enthaarerin waren nicht kompatibel – und Zwischenrasieren bereute ich im letzten solchen Fall sehr, weil die dann harten Stoppel für erneutes Wachsenthaaren erstmal lang genug werden müssen TMI Verzeihung []

Journal Sonntag, 29. September 2024 – Übersiedlung von Pollença nach Alcúdia

Montag, 30. September 2024

Realitätsflucht halte ich für eine irreführende Bezeichnung: Wenn die Realität momentan einfach ist, wo man nicht sein möchte? Zum Beispiel weil sie zu viele entkräftend kreiselnde Gedanken, Erinnerungen, Ausblicke, Gefühle enthält? So merkte ich am Samstag durch immer tiefer hängende Flügel und weil mir nichts einfallen wollte, worauf ich mich freuen konnte, dass ich eine Alternative brauchte, ein Ausweichen: Realitätsferien. Wie wunderbar, dass ich am Vorabend einen Roman begonnen hatte, der mir gut gefiel und dessen weitere Handlung mich sehr interessierte: David Schalko nahm mich mit seinem Schwere Knochen in die Kriminellenszene von Konzentrationslagern und der österreichischen Nachkriegszeit mit, in einem sehr wienerisch lakonischen Tonfall. Dort beim bauernschlau-brutalen Krutzler und seiner Bande wollte ich viel lieber sein als bei mir, sollten sich meine blöden Gefühle und Befindlichkeiten bitte im Hintergrund um sich selber kümmern, im Idealfall sortieren. Zeitung, Nachrichten, Blog konnten ebenfalls selber schauen, wo sie blieben.

Es sollte dafür eigene Läden geben: Eskapismus aller Art. Romane, Filme, Strickzeug, Gesellschafts- und Geschicklichkeitsspiele.

Ich hatte gestern gut geschlafen, wachte aber viel zu früh auf. Nach einiger Weile schaffte ich es nochmal einzuschlafen.

Frühstück ließ ich aus, gestern brauchte ich ja auch keine Brotzeit, statt dessen ging ich in den wundervoll sonnigen Morgen in Pollença. Die Fußbeschwerden, um die ich mich vor der Wanderung sorgte, machten übrigens überhaupt keine Probleme; ich bemerkte ihre Existenz wenn überhaupt beim Gehen außerhalb der Wanderungen. Und ich bin natürlich nicht die einzige, die hier von Mücken gestochen wird: Gerade helle nackte Beine um mich herum sind praktisch alle mit deutlich mehr Quaddeln übersät.

Morgensonnenlicht in Dorfgasse, rechts eine moderne Steinskulptur, links eine Außentreppe zwischen Häusern, auf dern ein Mann sitzt und in einen Handy-Bildschirm spricht, im Hintergrund Zypressen

Der Herr links filmte sich gerade beim Aufnehmen einer Predigt, zumindest dem spanischen salbungsvollen Tonfall nach, es ging um eine übergewichtige junge Frau.

Türstock eines alten Steinhauses mit einem Stoffvorhang verhängt

Ikat-Muster in natürlichem Habitat – hier ein ausführlicher Artikel im AD-Magazin zum speziellen Färbe- und Webverfahren sowie zu den regionalen Unterschieden.

Von leicht unten die helle, schlichte Fassade einer Kapelle, auf beiden Seiten Bäume, rechts der Schattenriss eines Gitarrenkoffers und eines Gitarrenhalses

Calvarien-Kapelle, vor der sich gerade ein Gitarrist in Paco-de-Lucía-Outfit warmspielte (hat tip an den Gitarre-spielenden Neffen 2, der bereits die korrekten Stiefel besitzt).

Alte Urkunde auf Spanisch hinter Glas, in dem sich die Fotografin spiegelt

An der Innenwand der Kapelle. So sieht also ein Ablassbrief aus, ich lernte die spanische Bezeichnung Rescripto de indulgencias und freute mich an dem “ETC., ETC”.

Blick von innen auf einen sonnigen Vorplatz, rechts eine große dunkle Holztür mit Nagelmuster, links klein zwei Menschen, die sich nähern

Erhöhter Blick auf eine Stadt im silbernen Mirgendunst, von grünen Hügeln umgeben

Pollença

Schräger Blick hinunter auf eine sonnenbeschienene Steintreppe, rechts und links Zypressen, unten im Dunst eine Sandsteinkirche

Zurück vom Spaziergang hätte ich doch gern einen café con leche in einem Café gehabt – doch das Personal an der Theke ignorierte mich minutenlang so betont (kein Blick, kein Wort), dass ich packte und ging.

Ich wollte wieder nicht zu früh im nächsten Hotel auftauchen, in dem ich noch drei Gammeltage (as if) verbringen wollte, in Alcúdia. Also las ich noch eine Runde, bevor ich zur Bushaltestelle ging.

In Alcúdia musste ich mich mit meinem Koffer durch einen Straßenmarkt schlagen (Kleidung und Krimskrams), zum Glück war das Hotel im Altstadtkern nicht weit.

Großes, hohes Hotelzimmer in einem Altbau mit Himmelbett und bunten Bodenkacheln

Von der Wirtin erfuhr ich, dass es sich um das Elternhaus ihres Ehemanns handelt.

Nach Auspacken ging ich raus nach Alcúdia zum Gucken und Brotzeitkaufen.

Schmal Altstadtgasse, unten die Köpfe vieler menschen, am oberen Rand ein verzierter Turm aus Sandstein

Es war sehr, sehr voll in den schmalen Gassen mit vielen Restaurants, Bars, Kleidungs- und Krimskramsgeschäften, es dauerte eine Weile, bis ich Brotzeit in Form von kleinen Empanadas zum Mitnehmen fand. Zwei gab es um zwei zu einem Apfel aus Restbeständen.

Nachmittag mit Lesen. Fürs Nachtmahl ging ich raus, entschied mich für irgendeines der Dutzende Touristen-Lokale, die irgendwas mit Tapas, Pasta und Burger anboten – weil ich auf deren Karte eine kleine Unterabteilung “mallorquinische Spezialitäten” gesehen hatte. In Jeansjacke konnte ich in der Abendkühle noch draußen sitzen.

Drei Fotos von Teller mit Speisen: Gemüseauflauf, Kroketten, Kuchen mit Eis

Die Croquetas links unten aß ich für Herrn Kaltmamsell, der sie liebt – und die mit Bacalao-Füllung waren auch gar nicht übel. Außerdem Tumbet (zufällig und immer schon vegan), das ich daheim wohl als Erstes nachkochen werde. Nachtisch mallorquinischer Mandelkuchen Gató mit Mandeleis, ganz frisch und gut. Lust auf Alkohol hatte ich nicht, also dazu Tonic Water.

Zurück ins Hotel über eine kleine Runde durch die kleine Altstadt.

Nächtlich beleuchtet sehr altes Stadttor aus Sandstein, davor Menschen

In der Nacht ein steingepflasterter Platz, links ein beleuchteter Autoscooter, rechts eine Stadtmauer aus Sandstein

Es sind wohl gerade noch Fiestas hier.

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Ich bin immer noch dabei nachzudenken, was Männerpräsenz für mich bedrohlich macht – nachdem ich gerade erst gemerkt habe, wie schlagartig entspannter ich werde, wenn dieser Mann bunt lackierte Fingernägel hat. Eine Diskussion auf Mastodon lieferte mir das Stichwort “gefühlter Testosteron-Anteil”, das scheint mir eine heiße Spur. Nächstes Nachdenken also, woran ich diesen Testosteron-Pegel festmache – außer an sehr deutlichen und lauten Anzeichen im Fußball oder mit aufheulenden Autos. Es müssen viele kleine Details im Gesamt-Habitus sein, die alle nicht mit bunt lackierten Fingernägeln zusammenpassen.

§

Für alle, die sich an mehr Maggie Smith erinnern als ihre Rollen in Harry Potter und Downton Abbey, hier Nachruf und Erinnerungen von Arbeitskolleg*innen im Guardian:
“Dame Maggie Smith obituary”.

Zum Beispiel vom Drehbuchautor des Films The Best Exotic Marigold Hotel, Ol Parker:

The acerbic wit, the putdowns, the total lack of fucks given were at least as funny and powerful as the lines writers like myself tried to create for her.

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Jetzt in der 3sat-Mediathek: Der Dokumentarfilm über unser Kartoffelkombinat – die ersten neun Jahre. (Mich sieht man einmal ganz kurz auf einer Generalversammlung.)
“Das Kombinat”.