Journal Sonntag, 30. März 2025 – Betty Smith, A Tree Grows in Brooklyn
Montag, 31. März 2025Eher unruhige Nacht, vor allem nervten bei den Wiedereinschlafversuchen die unweigerlichen Arbeitsthemen, von denen mein Hirn jedesmal nur mit Anstrengung abzubringen war.
Nach müdem Aufstehen erstmal Uhrenstellen; da mag das Internet of things (IoT) mittlerweile bei eigenständigen Entscheidungen zur Fleischsorte des Sonntagsbratens angekommen sein, die angezeigte Uhrzeit erfordert Menscheneinsatz. Der Funkwecker neben dem Bett verliert ja seit vielen Jahren nach und nach seine Funktionen, die Funkerei gehört schon lang dazu; bleibt die Zeitanzeige auf Zifferblatt, mehr will ich von ihm gar nicht. Die Uhr im Badezimmer, ein weiß lackiertes Holz-Oval mit zwei schwarzen Zeigern, gehörte meiner Erinnerung nach zu den ersten Dingen, die ich nach Auszug von daheim bei Ikea kaufte, Schnäppchen von einem Restpostenstapel – damals, kurz nach Elektrifizierung, war Funk ja noch gar nicht erfunden.
Lästig fand ich gestern lediglich, dass mein Hirn sich erstmal nicht davon abhalten ließ, “eigentlich ist es schon… ach nee, eigentlich ist es erst…” zu spielen, obwohl ich aktiv gegenarbeitete mit “völlig egal, wir leben jetzt einfach nach der Zeit, die auf der Uhr steht zefix”.
Ich machte mich also zur üblichen Zeit (!) fertig für den geplanten Isarlauf. Zu meiner Freude (mit schlechtem Landwirtschaftsgewissen) war der Tag trocken geblieben, sogar freundlich geworden mit ein wenig blauem Himmel. Tram Richtung Tivoli, Lauf nach Norden und wieder zurück. Die Luft war angenehm, mit langärmligem dicken Kapuzenoberteil und langer Winterlaufhose war ich genau richtig angezogen.
Nicht das allerfitteste Gefühl, aber die gut anderthalb Stunden bereiteten mir keine wirkliche Mühe.
Inklusive Duft!
Mit der Tram zurück nach Hause. Frühstück um halb zwei: Restliche Grie Soß, selbstgebackenes Roggenmischbrot (auch am zweiten Tag noch sehr frisch – gutes Rezept), Blutorange mit Joghurt.
Den Nachmittag nutzte ich zum Zeitunglesen und zum Wegbügeln des mittelgroßen Wäschebergs – mit Musik auf den Ohren, weil mir leider nicht nach der Aufmerksamkeit für Podcasts war, Gehirn zu beschäftigt (da habe ich alle paar Wochen mal Gelegenheit durch Bügeln, und dann passt’s doch nicht). Jetzt stehen mir wieder einige Lieblingskleidungsstücke zur Verfügung – die schönsten sind halt gerne mal bügelbedürftig.
Angenehme Yoga-Gymnastik, dann servierte Herr Kaltmamsell echtes Sonntagsessen: Mapo Doufu (mit Pilzen ohne Hackfleisch – ich hatte ihm ein neues Rezept zugesteckt) und chinesische Duft-Aubergine.
Ganz großartig. Nachtisch Eiscreme.
Fast so früh wie sonst ins Bett, dort Start der neuen Lektüre: Markus Pfeifer, Springweg brennt. Ich freute mich wie seinerzeit beim Lesen seiner Utrecht-Geschichten im Blog über den mir so fremden Einblick ins Hausbesetzen aus freundlicher Perpektive.
§
Samstagabend hatte ich Betty Smith, A Tree Grows in Brooklyn ausgelesen: 1943 veröffentlicht und ein enormer Erfolg, bis heute ein Klassiker – und doch hatte ich nie etwas davon gehört, auch nicht in meinem Studium Englische Literaturwissenschaft. Nach der Lektüre fand ich heraus, dass der Roman zwar popkulturell relevant ist (Herr Kaltmamsell wusste ihn bei Nennung sofort einzuordnen), aber literaturwissenschaftlich nie ernst genommen wurde. Verwunderlich, denn ich hatte ihn nicht nur sehr gern gelesen, sondern viel daran auch literarisch reizvoll gefunden.
Wieder Autofiktion – aber aus einer Zeit, als diese eher als “Erinnerungen” oder “a memoir” vermarktet wurde, Wikipedia verwendet den Begriff “semi-autobiographical novel”.
Die Geschichte wird ganz nah aus der personalen Perspektive der Protagonistin Francie geschrieben. Zu Beginn ist das Mädchen elf Jahre alt, sitzt wie immer samstags auf der Feuerleiter ihres Wohnhauses in Williamsburg und hat es sich mit einem Buch gemütlich gemacht. Diesen Samstag bekommen wir nochmal sehr detailliert vom Morgen an erzählt, dann geht es rückblickend um die Geschichte der Familie, bis wir zurück bei der Elfjährigen und Anfang der 1910er-Jahre sind. In vielen Einzelkapiteln erfahren wir das Heranwachsen von Francie, manchmal bekommen wir auch die Perspektive anderer Personen. Die Handlung endet, als die Familie aus Brooklyn wegzieht, Francie ist da kurz vor ihrem 17. Geburtstag.
Für mich las sich der Roman wie über einen langen Zeitraum geschrieben, zum Teil wie eine Sammlung von Einzeltexten über Erlebnisse und Erinnerungen, stilistisch sehr variiert. Manchmal sind Schilderung ausführlich bis ins kleinste Detail – als wollte jemand etwas Verschwundenes, Vergangenes festhalten. Dann wieder ein Kapitel fast nur aus Dialogschnippseln, die Francie durch die Wand hört.
Mich fesselten die Themen Armut und Selbstbestimmung, besonders vielschichtig ist die Zeichnung des schwer alkoholkranken Vaters, seiner Eleganz, Aufmerksamkeit und Zuwendung, seiner Hilflosigkeit seiner Krankheit gegenüber. Auch die Qualen eines kleines Kinds, das von Erlebnissen und Anblicken gebeutelt wird, sind sehr glaubwürdig und nachvollziehbar geschildert. Ungewöhnlich für die Zeit wird klar über sexuelles Begehren bei Frauen geschrieben wird, ganz ohne Blümchen und unsentimental, sondern eher sachlich und freundlich.
Formal hat der Roman durch seine verschiedenen Richtungen und Stile etwas Rohes und Unfertiges; er würde heute sehr wahrscheinlich vom Verlag in eine rundere, konsistentere Form gebracht – und dadurch schlechter: Ich fand gerade das leichte Humpeln der Gesamtkonstruktion attraktiv. Zwar hält Smith offensichtlich viele Aspekte sehr bewusst chronistisch fest (u.a. die Rolle von Religion und Bildung), verwendet auch eine sehr reflektierte Erzählstimme, transportiert aber (wie jede Autorin und jeder Autor) mehr, als ihr bewusst ist – zum Beispiel den Wandel des Selbstverständisses von Frauen.
Das passt zur Protagonistin, die immer wieder mit Wörtern ringt, der wir dabei zusehen wie sie lernt, Sprache zur Abbildung von Wirklichkeit zu verwenden – oder zu ihrer Idealisierung.
Echte Leseempfehlung – und damit zurück zur fehlenden literaturwissenschaftlichen Anerkennung.
2021 schreibt Joyce Zonana in The Hudson Review:
“The Hungry Artist: Rereading Betty Smith’s A Tree Grows in Brooklyn”.
Sie untersucht die Kluft zwischen seiner Popularität (das Buch wird bis heute gedruckt) und Geliebtheit (auch von ihr selbst) und angenommenem Fehlen eines literarischen Werts. Dem sie ausführlich und nachvollziehbar widerspricht.
The book is less concerned with material escape from poverty than with spiritual freedom; less with the acquisition of wealth than with a new way of looking upon poverty.
(…)
It may be that A Tree Grows in Brooklyn has been neglected not because its author is working class and female, nor even because its subject matter is the life of a working-class female, but because the book embodies what might be called a working-class or “folk” aesthetic while simultaneously eschewing the radical politics and social critique usually associated with proletarian literature.
Zonana legt viele Verdienste und die Kunstfertigkeit des Romans dar.
§
Nochmal Kindheit: Wie war es, als Kind einer der Führungsfiguren der Black Panthers aufzuwachsen? Der Guardian hat ein langes Stück, in dem einige davon zu Wort kommen:
“Radical Change isn’t Free”.
The Black Panthers shook America awake before the party was eviscerated by the US government. Their children paid a steep price, but also emerged with unassailable pride and burning lessons for today